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Unser bengalischer Nachbar

Satyajit Ray ist ohne Zweifel der in unseren Breiten bekannteste Regisseur des indischen Kinos. Doch verdankt er diesen Ruhm einigen wenigen Titeln. Die eher punktuelle Kenntnis seiner Filme verleitet zu vorschnell generalisierenden Schlüssen auf sein Werk, das in Wirklichkeit weit breiter gefächert und bunter ist.

Text: Martin Girod / 23. Feb. 2011

Satyajit Ray (1921–1992) ist ohne Zweifel der in unseren Breiten bekannteste Regisseur des indischen Kinos. Doch verdankt er diesen Ruhm vorwiegend einigen wenigen Titeln wie Pather Panchali und Charulata. Die eher punktuelle Kenntnis seiner Filme verleitet zu vorschnell generalisierenden Schlüssen auf sein Werk, das in Wirklichkeit weit breiter gefächert und bunter ist. Damit wiederholt sich allerdings für Ray nur im Kleinen, was für das indische Kino im grossen Ganzen gilt: diese merkwürdige Art von Scheinbekanntheit, bei der, von eher zufälligen Begegnungen ausgehend, oft vorschnell verallgemeinert wird.

Dank frühen Festivalerfolgen in Cannes und Venedig, später in Berlin und schliesslich 1992 einem Ehren-Oscar für sein Lebenswerk wurde und wird Satyajit Ray gerne als Aushängeschild für das indische Filmschaffen benutzt. Einen weniger repräsentativen Repräsentanten kann man sich allerdings schwer denken. Schon seine obstinate Verankerung in Westbengalen – er drehte 28 seiner 29 Kinofilme in seiner Muttersprache Bengali – machte ihn in Indien geografisch ebenso wie nach marktorientierten Gesichtspunkten zur Randfigur. Und noch mehr war er es als Filmautor mit einem konsequent künstlerischen Selbstverständnis im stark kommerzialisierten indischen Kino. (Was nicht heissen soll, dass er nicht ein breites Publikum ansprechen wollte – und immer wieder erreichte.)

Werdegang eines Multitalents

Als Spross einer Familie mit kultureller Tradition – sowohl der Vater wie der Grossvater waren als Schriftsteller beziehungsweise Musiker bekannt, zudem war die Familie mit Rabindranath Tagore befreundet – wuchs Satyajit Ray nach dem frühen Tod seines Vaters bei einem Onkel in gutbürgerlicher Umgebung auf. Ein Kunststudium an Tagores Universität in Sandiniketan brach er vor dem Diplom ab, um eine erfolgreiche Karriere als Grafiker in der Kalkutta-Filiale einer britischen Werbeagentur zu beginnen. Daneben trat er als Buchgestalter und Illustrator hervor.

Satyajit Rays private Interessen galten der klassischen westlichen Musik, der Lektüre vorwiegend englischsprachiger Literatur und mehr und mehr dem Film: anfänglich als eifriger Kinogänger, ab 1947 mit einigen Freunden zusammen auch als Gründer und Animator der Calcutta Film Society. Für das Informationsbulletin dieses Filmklubs schrieb er auch erste Texte über Film. Als Jean Renoir 1949 nach Kalkutta kam, um seinen Farbfilm The River vorzubereiten, lernte Ray ihn kennen und begleitete den Meister auf einer Reihe von Rekognoszierungsfahrten, doch die Berufsarbeit verunmöglichte es ihm, regelmässig bei Renoirs Dreharbeiten anwesend zu sein. Dennoch sollte die Begegnung mit dem grossen Franzosen, vor allem das Erleben von Renoirs intensiver Suche nach authentischen und zugleich aussagekräftigen Details, für Ray prägend wirken.

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Durch einen Artikel über Renoirs Indienaufenthalt für die englische Filmzeitschrift «Sequence» kam Ray auch in Kontakt mit einem der damaligen Redakteure, dem späteren Free-Cinema-Pionier Lindsay Anderson. Als ihn wenig später seine Firma für ein halbes Jahr an den Hauptsitz nach London schickte, traf er Anderson wieder, und sie gingen oft zusammen ins Kino. In London sah Ray unter anderem die neorealistischen Filme aus Italien – über Ladri di biciclette schrieb er einen längeren Text für das Bulletin der Film Society; daneben besuchte er so oft wie möglich Konzerte, Ausstellungen und Theateraufführungen. Entgegen den Erwartungen seiner Bosse kam er nicht als hundertfünfzigprozentiger Werbemann aus London zurück, sondern mit dem langsam gereiften Projekt zu einem eigenen Spielfilm.

Durchbruch mit dem Erstling

Neben seiner Arbeit für die Werbeagentur begann Ray im Herbst 1952, Pather Panchali zu realisieren, den Erstling, der ihm auf einen Schlag zu internationaler Aufmerksamkeit verhelfen sollte. Anfänglich finanzierte er die Dreharbeiten aus der eigenen Tasche; später, als er erste Muster vorzeigen konnte, erhielt er einen Beitrag der Regierung von Westbengalen, die glaubte, es mit einem Dokumentarfilm zu tun zu haben.

Den Irrtum begünstigt hat sicher, dass Ray sich neben dem bei Renoir Gelernten deutlich von den neorealistischen Vorbildern beeinflussen liess. Auf eine dritte Inspirationsquelle hat Ray selbst immer wieder dankbar hingewiesen: den sowjetischen Regisseur Mark Donskoi und seine Verfilmung von Maxim Gorkis autobiografischer Trilogie. Auch Ray konnte, was er wohl zu Beginn kaum zu hoffen wagte, nach dem Erfolg von Pather Panchali (fertiggestellt 1955) das Werk mit zwei weiteren, in sich geschlossenen Spielfilmen zur Trilogie vervollständigen. Mit Aparajito (The Unvanquished, 1956) und Apur Sansar (The World of Apu, 1959) wird die Geschichte Apus von der Kindheit zum jungen Erwachsenen und vom Land in die Stadt weitergeführt. Wie die Gorki-Trilogie ist die Apu-Trilogie (nach Romanen von Bibhutibhusan Banerjee) die Geschichte von Kindheit und Jugend eines zu kritischem Bewusstsein und schriftstellerischer Berufung heranwachsenden jungen Mannes.

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Die Auszeichnung von Satyajit Rays Erstling in Cannes war ein phantastischer Durchbruch. Zunächst für Ray selbst, der von da an praktisch ohne Unterbruch Filme drehen, wenn auch nicht unbedingt davon leben konnte (dafür verfolgte er parallel zur filmischen seine publizistische Tätigkeit). Ein mutmachender und wegweisender Durchbruch aber auch für andere künstlerisch ambitionierte bengalische Filmemacher derselben Generation wie Mrinal Sen (*1923) und Ritwik Ghatak (1925–1976).

Allround-Autor

Noch bevor der Schlachtruf der kommenden französischen Nouvelle Vague von der «politique des auteurs» sich verbreiten, durchsetzen und schliesslich zum Schlagwort verkommen konnte, verfolgte Satyajit Ray eine Schaffensweise, die ihm erlaubte, Filme ganz nach seinen Ideen zu gestalten. Ray schrieb nicht nur seine Drehbücher selbst, er zeichnete viele seiner Einstellungen in einer Art Storyboard, er hatte, wenn er zu drehen begann, praktisch schon den fertigen Film in allen Details vor seinem «inneren Auge» präsent (The Inner Eye heisst bezeichnenderweise ein kurzer Dokumentarfilm, den Ray 1972 über einen blinden Maler drehte).

Fotos von den Dreharbeiten zeigen immer wieder, wie Ray selbst an der Kamera steht, um seiner Vision entsprechend zu kadrieren, und Mitarbeiter erzählen, dass er kaum unnötiges Filmmaterial verbraucht habe, weil er schon beim Drehen präzise wusste, wie lange eine Einstellung werden sollte. Bühnenbild und -kostümskizzen in Rays Arbeitsdrehbüchern zeugen ebenfalls von seinen detaillierten Vorstellungen. Ähnlich finden sich in Rays Skizzen Musiknoten: Von 1961 an schrieb er die Musik zu allen seinen Filmen selbst. Die Darsteller erzählen, wie genau ihnen Ray (der selbst nie Schauspieler war) die Szenen vorgespielt und dass er, wo Songs eingeplant waren, diese bei den Dreharbeiten selbst gesungen habe.

Die Autoren-Konzeption des Filmemachers, der seine Sicht der Story und der Figuren, kurz: der Welt, realisiert, bedeutet im Falle Rays jedoch keineswegs, dass er nur eine Art von Filmen gedreht hätte, und schon gar nicht, dass es intellektuell-abgehobene Filme wären, unzugänglich für ein breiteres Publikum. Weitgehend konsequent war Ray jedoch in der Wahl von Stoffen, die sich mit einem überschaubaren Budget und in jener fast handwerklichen Produktionsweise umsetzen liessen, die den Produzenten nicht zu dominant werden liess und damit dem Autor die Chance bot zur möglichst unverfälschten Verwirklichung des von ihm Imaginierten.

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Vielfalt von Themen und Genres

Ganz in der Nachfolge der Neorealisten war Rays filmische Grundkonzeption eine weitgehend naturalistische, auf äussere Authentizität und innere Glaubwürdigkeit bedachte. Dies gilt am offensichtlichsten für die Darstellung des Dorflebens in Pather Panchali, für die Grossstadtfilme wie Mahanagar (The Big City, 1963), Pratidwandi (The Adversary, 1970), Seemabaddha (Company Limited, 1971) und Jana Aranya (The Middleman, 1976) und seine späte Adaptation von Henrik Ibsens Drama «Der Volksfeind» (Ganashatru, 1989). Doch auch seine im historischen Kostüm daherkommenden «period pictures», etwa seine Rabindranath-Tagore-Adaptationen Teen Kaanya (Three Daughters, 1961), Charulata (1964) und Ghare-Baire (The Home and the World, 1984), huldigen weder dem Pittoresken noch einer selbstzweckhaften Künstlichkeit. Ebenso sind Jalsaghar (The Music Room, 1958) oder Shatranj Ke Khilari (The Chess Players, 1977) in Inhalt und Form genau recherchiert, erschöpfen sich keineswegs in schwärmerischen Bildern alter Zeiten. Viel eher kritisieren sie bei einigen der dargestellten Figuren einen fatalen Hang, einseitig rückwärtsgewandt im Hergebrachten zu verharren. Seine inhaltliche und gestalterische Autorenposition vermochte Ray in Filme unterschiedlichster Genres einzubringen. Selbst Stoffe, die vordergründig eher einem unverbindlichen Unterhaltungskino zu entsprechen scheinen, wie in den Detektivfilmen Sonar Kella (The Golden Forteress, 1974) und Joi Baba Felunath (The Elephant God, 1979), werden unter seiner Hand zu persönlichen Werken. Ray, der ab 1961 die einst von seinem Grossvater und Vater gegründete Monatszeitschrift für Kinder «Sandesh» wiederbelebt und als Autor, Zeichner, Redaktor und Verleger regelmässig herausgebracht hat, drehte mit Goopy Gyne Bagha Byne (The Adventures of Goopy and Bagha, 1968) und Heerak Rajar Deshe (The Kingdom of Diamonds, 1980) sogar zwei Kinderfilme. Selbst als Ray mit dem seinerzeitigen Bengali-Topstar Uttam Kumar ein Starvehikel zu realisieren schien, entsprang dies seiner naturalistischen Auffassung: Für die glaubhafte Verkörperung eines Stars in Nayak (The Hero, 1966) brauchte es nach seiner Meinung eben einen Star. Keinen Platz fanden in der naturalistischen Filmkonzeption Rays die traditionellen, bühnenhaften Tanz- und Gesangseinlagen des kommerziellen indischen Kinos. Wenn bei Ray gesungen wird (oft sind es Lieder von Rabindranath Tagore), ist es ein Singen der handelnden Figur. Die Schauspielerin Waheeda Rehman, damals ein junger Star des Hindi-Kinos, hatte in Rays Abhidjan (The Expedition, 1962) eine solche Gesangsszene: Zu ihrer grössten Überraschung akzeptierte Ray keinen Playbackgesang einer professionellen Sängerin, sondern nötigte Rehman, selbst zu singen – so laienhaft, wie es der Filmfigur entsprach.

Realitaetsbezug und künstlerische Verdichtung

In all den unterschiedlichen Genres lassen sich einige Grundzüge Rays erkennen: Er bleibt traditionellen moralischen Werten verbunden, ohne in Nostalgie zu verfallen, versucht vielmehr, sie für die Bewältigung einer ungeschönt kritisch dargestellten, aber nie dämonisierten Neuzeit heranzuziehen. Ray zeigt Arbeitslosigkeit und Elend, er entlarvt bei den Erfolgreicheren den zynischen Karrierismus und die Korruption, sein Blick auf den «menschlichen Dschungel» (dies die wörtliche Übersetzung des Filmtitels Jana Aranya) ist durchdringend. Und doch zeichnet er sich auch durch eine grosse Offenheit aus, die eingeht auf die innere Wahrheit seiner Figuren wie auf die Schauplätze, die er oft aufs einprägsamste lebendig werden lässt. Seine Personen sind im alltäglichen Umfeld, ihrem materiellen Dasein wie in ihrer subjektiven Stimmigkeit erfasst, deshalb bewahren die meisten selbst in der kritisch-entlarvenden Darstellung noch einen Rest menschlicher Würde. Dies gilt ganz besonders für seine Frauenfiguren, die sich als stärker erweisen als ihre in Konventionen gefangenen Männer.

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Realitätstreue bedeutet bei Satyajit Ray in keiner Weise den Verzicht auf künstlerische Gestaltung. Wie er diese Wirklichkeit zeigt, die unaufdringlich bedeutungsvolle Auswahl des Ausschnitts, die kenntnisreich-liebevolle Optik, die filmische Verdichtung, das macht den Rang von Rays filmischem Werk aus. Konventionell daran – im Sinne der Naturalisten wie des Hollwood-Kinos – ist, dass sich das Gestalterische nicht in den Vordergrund drängt. Für westliche Augen und insbesondere heutige Sehgewohnheiten fremd – nach kurzer Eingewöhnung aber auch sehr wohltuend – wirkt allenfalls der gemächlichere Rhythmus. Rays Kunstfertigkeit überrumpelt uns nicht, stellt sich auch nie eitel selbst als solche aus, sie tritt diskret in den Dienst des Darzustellenden und macht dieses so erst zum Erlebnis. Dennoch ist bei einigen Ray-Filmen, die die unerfreulicheren Seiten der bengalischen Realität zeigen, kritisiert worden, dass die Schönheit der filmischen Gestaltung im Widerspruch stehe zur inhaltlichen Brisanz und diese deshalb unterlaufe; so hat Ashani sanket (Distant Thunder, 1973), eine Geschichte über die grosse Hungersnot von 1943 in Bengalen, Rays Kollegen Mrinal Sen sogar zu einem Gegenfilm (Akaler sandhane / In Search of Famine, 1980) provoziert.

Das Universelle im Bengalischen

Bei allem (von Dritten gene aufgebauschten) kritischen Dialog zwischen den beiden Filmemachern sind Ray und Sen sich in vielem nahe. So bezeichnet sich Mrinal Sen selbst gerne als «incorrigible Indian»; im Fall von Ray ist man eher versucht, von einem «incorrigible Bengali» zu sprechen. Er, dessen Geist immer offen und für Anregungen empfänglich blieb, blieb fest verankert im Alltag und in der Kultur von West-Bengalen. Diese Kultur aber ist, um auch dies mit Sens Worten zu sagen (die nicht wertend gemeint sind), eine «bastard culture»: Sie hat einheimische Traditionen ebenso verarbeitet wie fremde Einflüsse.

Ray vermag mit seinen Filmen, uns das städtische und ländliche, das moderne wie das traditionelle Leben in seiner bengalischen Heimat näherzubringen, indem er uns deren – uns fremde – konkrete Erscheinungsformen genauso zu zeigen versteht wie ihre – uns vertrauten – menschlichen Beweggründe. Diese Fähigkeit macht ihn zu einem Filmkünstler mit internationaler Resonanz und Bedeutung. Am schönsten formuliert hat das wohl ein Kollege, der Ray in seiner menschlichen Haltung verwandt und im Range ebenbürtig war, der Japaner Akira Kurosawa: Rays Filme nicht gesehen zu haben, das sei, wie auf der Erde zu leben, ohne die Sonne und den Mond zu sehen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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