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Das Äussere übertreiben, das Innere entdecken

Viscontis Werk ist in gewissem Masse einzigartig im europäischen Kino. Es ist theatralisch im Dokument und dokumentarisch im Drama. Es ist Mimesis und Mathesis in einem: unentwegtes Abenteuer des filmisch Unmöglichen. Es bietet Geschichten über Liebe und Leidenschaft, Gewalt und Tod: Geschichten über Verfall, Verderbnis, Verwesung. Viscontis ästhetischer Realismus ist nicht bloss eine konzeptionelle Kompositionsform, sondern auch (und besonders) eine eigenständige Perspektive auf die Welt und ihren Zustand.

Text: Norbert Grob / 28. Sep. 2011

für meinen guten Freund Bernd Kiefer
zum Fünfundfünfzigsten

«Die Schönheit, Phaidros, merke das wohl,
nur die Schönheit ist göttlich und sichtbar zugleich,
und so ist sie denn also des Sinnlichen Weg, ist,
kleiner Phaidros, der Weg des Künstlers zum Geiste.»

Sokrates, nach Platon

Ohne Zweifel ist die grosse Ball-Sequenz am Ende von Il gattopardo (1962) der Höhepunkt in Viscontis vielschichtiger Kunst: Hommage an die opulenten Orgien bei Erich von Stroheim (in Merry-Go-Round oder The Wedding March) und danach selbst Vorbild für zahllose Fest-Inszenierungen – von Bondarchuks War and Peace (1968) über Coppolas The Godfather (1971) bis zu Kubricks Eyes Wide Shut (1999). Diese Sequenz vereinigt ganz unterschiedliche Elemente in sich: das Literarische (den Abgesang auf den sizilianischen Adel und seine Zeit), das Theatralische (die Spannung der Figuren im Raum), das Musikalische (Nino Rotas Verdi-Variationen), das Malerisch-Bildhafte (Giuseppe Rotunnos Licht- & Bild-Kompositionen, die das Tun der Figuren immer im Verhältnis zum Dekor einfangen), schliesslich – auf der integrativen Ebene – das Filmische: der Blick aufs Ganze und der Rhythmus der Blicke, wodurch die Figuren in Bezug zur Geschichte und ihrer eigenen Vergangenheit, zu anderen Personen wie zu ihrer Umgebung vorgeführt (und reflektiert) werden.

Der lange Gang des Fürsten durch die Ball-Säle, von einem Raum zum anderen, wirkt wie ein letztes, nachdrückliches Aufsaugen des “Milieus”: des gedämpften Verhaltens seiner Bekannten und Verwandten wie der Dinge, der Kunst, der Möbel, der Ornamente. Er geniesst die Situation, hört und schaut – und erkennt, während er noch alles sinnlich wahrnimmt, dass die Zeit für diese Lebensweise für immer vorüber ist. Das Besondere dabei ist, dass diesen Bildern eine doppelte Windung ins Fiktive unterlegt ist. Die Mise en scène unterstreicht die Spannung zwischen Figur und Ambiente. Während die Kamera, die dieses spannende Verhältnis eigenständig umrahmt, eine weitere Interpretation hinzufügt (als erzählerische Instanz hinter der inszenatorischen Ordnung). Wie in diesen Bildern zelebriert Luchino Visconti das Geschehen seiner melodramatisch getönten Tragödien oft aufs Äusserste, so dass die Ereignisse zu nehmen sind, als geschähen sie im selben Augenblick. Nicht Rekonstruktion von Handlung in Bildern sucht er, sondern Konstruktion von Handlung und Bild zugleich. Deshalb geht es in seinen Filmen auch weniger ums Erzählen, sondern ums Sichtbar-Machen, von Anfang an. Nicht die Suggestion dominiert, sondern die Transparenz: der Röntgenblick auf eine Vergangenheit, bis das System dahinter offenkundig wird – die Ordnung, die regelt und bestimmt.

In dem Sinne ist Viscontis ästhetischer Realismus nicht bloss eine konzeptionelle Kompositionsform, sondern auch (und besonders) eine eigenständige Perspektive auf die Welt und ihren Zustand. Das Mehr an Künstlichkeit eröffnet den Blick für ein mehr an Realität. Geoffrey Nowell Smith hat zu diesen Szenen angemerkt, es gebe darin «no visual or rhetorical expressionism. Everything is real, but seen in a particular way, refracted through the consciousness of the Prince. Stylistically it is the perfect cinematic equivalent of Flaubert’s style indirect libre

Oberflächen

Visconti hat Romane und Erzählungen von Giovanni Verga und Cesare Zavattini, Fedor M. Dostojewski und Giovanni Testori, von Giuseppe Tomasi di Lampedusa und Albert Camus, Thomas Mann und Gabriele D’Annunzio verfilmt. Angefangen aber hat er mit einem Film nach einem Thriller von James M. Cain: mit der Geschichte eines Mordes. Er hatte zuvor bei Jean Renoir (als dessen Assistent) gelernt, wie sehr triviale Vorlagen – diesseits von tieferem Sinn oder präziser Psychologie – ganz direkt auf Effekte zielen. Fürs Kino erleichtert das, die Reize der Oberflächen zu erkunden, es erleichtert, die Geheimnisse filmisch aufzuspüren, die von Farben und Formen, Bewegungen und Rhythmen ausgehen. Wo die Welt eher einfach ist, findet das «Leben ohne Seele, aus reiner Oberfläche, der nie ruhende Wechsel der Dinge» (wie Georg Lukács einst das frühe Kino umschrieb) am ehesten zu seinen komplizierten, in Raum und Zeit choreographierten Körper-Variationen. Visconti hat in Ossessione (1942) sehr radikal die rüde Welt der Oberflächen erprobt: die Faszination, die von den Schauplätzen kommt, von Strassen und Gaststätten, von Jahrmärkten und Tankstellen. Aber auch von direkten Aktionen, wo die Tat für Gefühle steht – und Gewalt für Leidenschaften. Später, in seinen von Literatur und Musik, Theater und Malerei, Historik und Philosophie geprägten Gesamtkunst-Filmen, bleibt diese Faszination als zusätzlicher Reichtum präsent.

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Das künstlerische Prinzip, das bei Visconti das Sichtbare dominiert, lautet: Alles Äussere übertreiben, auf dass das Innerste zu entdecken ist.

Zwischen Vergangenheit und Gegenwart

Viscontis Werk ist in gewissem Masse einzigartig im europäischen Kino. Es ist theatralisch im Dokument und dokumentarisch im Drama. Es ist Mimesis und Mathesis in einem: unentwegtes Abenteuer des filmisch Unmöglichen. Es bietet Geschichten über Liebe und Leidenschaft, Gewalt und Tod: Geschichten über Verfall, Verderbnis, Verwesung.

Nahezu alle Filme kreisen um die Spannung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen grossem Plan und kleinem Resultat. Es geht um die Frage, wie sehr sich Menschen und Verhältnisse ändern müssen, auf dass sie bleiben können, wie sie seit jeher waren. Wobei jedoch von Interesse nicht die Lebenskünstler sind, die ihre Probleme im Griff haben, sondern die Phantasten und Träumer, die an den Erfordernissen ihres Alltags und ihrer Zeit scheitern und zerbrechen: In Ossessione töten ein Mann und eine Frau, damit ihrer Leidenschaft nichts mehr im Wege steht; doch anders als geplant, ist danach nichts mehr wie zuvor. In La terra trema (1947) zerbricht eine Familie, als die jungen Männer aufbegehren, um ihr Leben zu verbessern; die Erfolge sind nur von kurzer Dauer, danach ist alles noch schlimmer als vorher. In Senso (1953) lügt und betrügt, denunziert und desertiert ein österreichischer Offizier, um seinen libertinen, hedonistischen Lebensstil zu wahren; alles soll bleiben, wie es war seit eh und jeh, doch am Ende hat nichts für ihn Bestand. In Rocco e i suoi fratelli (1960) kommt eine Familie nach dem Tod des Vaters von Sizilien nach Mailand, um einen neuen Anfang zu wagen; doch die Veränderung bringt nur Hader und Zank, Unglück und Elend. In Il gattopardo erkennt ein alternder Fürst, dass seine Welt im Aussterben begriffen ist, und beobachtet voller Staunen den Aufstieg der Geschäftemacher und voller Sympathie die unsteten Wandlungen seines Neffen, der alles ändern will, damit es bleibt, wie es ist. In Vaghe stelle dell’Orsa (1964), einer modernen Variation der Orestie, will eine junge Frau endlich die Wunden aus ihrer Kindheit heilen (und die Rätsel um ihren verschwundenen Vater klären), die Konflikte mit ihrer Mutter und ihrem Bruder aber stürzen sie nur noch tiefer in alte Angst- und Schuldgefühle. In La Caduta degli dei (1968) ringt eine Familie im Chaos von Kabale und Liebe um Geschäfte und Politik, Einfluss und Macht; jeder kämpft gegen jeden, um die Möglichkeiten der Zeit für die eigenen Ziele zu nutzen und alles im entsprechenden Sinne zu verändern; am Ende behält der Genussvoll-Dekadente die Oberhand, der brutaler und perverser seine Ziele verfolgt. Und in Morte a Venezia (1970) steht ein berühmter Komponist im Mittelpunkt, der aus der Rolle fällt, als er beginnt, allzu sehnsüchtig einem schönen Jüngling nachzublicken, er verändert sein Äusseres, um sein Innerstes zu offenbaren; wodurch er beides in die Vernichtung treibt – das Körperliche in Krankheit und Tod, das Seelische in Schwäche und Erniedrigung. In Gruppo di famiglia in un interno (1974) schliesslich öffnet sich ein alternder Kunsthistoriker noch einmal dem Leben, indem er junge Leute in sein Haus einlässt; doch danach – nach Augenblicken von Freud und Leid – nähert er sich dadurch nur noch rascher dem Tod.

Die These im Thematischen: die Tendenz zur steten Veränderung der Umstände, ist dabei stets als dramaturgische Strategie gedacht, auf dass die Dinge sich in (jeweils) erhoffter Weise fügen. Man könnte auch sagen: Visconti nutzt zum einen eine Dramaturgie des Linearen nach vorne (in Ossessione und La terra trema, in La caduta degli dei und Morte a Venezia), um seine Figuren zumindest auf der Stelle zu halten; und zum anderen eine Dramaturgie der Rolle rückwärts (in Senso und Il gattopardo), um seine Figuren verstehen zu lassen, dass die Umbrüche um sie herum nicht aufzuhalten sind. Oder anders, in der Terminologie der Cinephilen: Es dominiert eine Dramaturgie des Kontrapunktischen, in der eine Ebene vorgestellt wird (die der Hoffnungen und Wünsche), um einer anderen Kontur zu geben (die der Tatsachen) – wodurch eine dritte Ebene sich konstituiert (die der Konsequenzen aus dem Gegensatz zwischen Wunsch und Wirklichkeit), die nach hinten geneigt ist, auch durch die Charakterisierung der Figuren, die allesamt Protagonisten des Niedergangs sind.

Der Tod als schöne Frau

Luchino Visconti ist ein Poet des Zerfalls und des Todes, ein filmischer Visionär der Zerstörung und des Niedergangs von Menschen und Mentalitäten, von Gesellschaft, Klasse, Kultur. Auf ihn selbst trifft zu, was in Il gattopardo der junge Tancredi einmal über Don Fabrizio, den Fürsten von Salino, sagt: «Er hofiert den Tod, als sei er eine schöne Frau.»

Zur Präsenz der Zeit

Visconti hat Filme über die Zeiten-Wenden zwischen Mitte des neunzehnten bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts gedreht: Filme über Italien um 1860/61 (Il gattopardo) und 1866 (Senso), um 1910 (Morte a Venezia) und 1955 (Rocco e i suoi fratelli), Bayern um 1880 (Ludwig), Deutschland zwischen 1933 und 1940 (La caduta degli dei), Algerien/Frankreich um 1940 (Lo straniero). Zu sehen ist dabei, wie im Kino Vergangenes ganz selbstverständlich zu Gegenwärtigem wird. Das heisst, das Zeitliche wird nicht konjugiert, sondern präsentiert. So bleibt der Lauf der Zeit eingebunden, also beherrscht; während es gleichzeitig scheint, als fliesse sie, im Moment. Alte, längst verfallene Welten entstehen neu – durchdrungen vom Zauber altertümlicher Gedanken und Gefühle.

In Senso, Il gattopardo und Ludwig tragen die Figuren alte Kostüme, reisen in Kutschen und bewegen sich durch prunkvolle Gemächer. Aber die fremde Welt wird akzeptiert, als wäre sie selbstverständlicher Teil der alltäglichen Erfahrung. In Il gattopardo wird zudem der Abgesang auf ein sizilianisches Adelsgeschlecht angestimmt: über einen Mann und seine Familie, die in den Jahren des Garibaldi-Aufstands zwischen die Zeiten geraten sind – zwischen feudalistischer Herrschaft und bürgerlichem Nationalismus, zwischen aristokratischen und bourgeoisen Anspruch auf Macht. Sichtbar wird die Atmosphäre der Zeit, die im Umbruch ist, und die Atmosphäre des Landes, das seine Hitze und die darüber entstehende Dürre den Menschen tief einprägt. Wodurch viele ihr Leben eher als Schicksal nehmen. «Schlaf, einen tiefen Schlaf wollen die Sizilianer», sagt der Fürst einmal, «und sie werden immer jeden hassen, der sie aufwecken will.»

Die Zeit als Entwicklungslauf einer Story und Moment der History zugleich, das ist Viscontis grosses Thema. Dieser doppelte Charakter der Zeit-Gestaltung sollte in ihrer Vielschichtigkeit allein als Folge von Viscontis ästhetischem Wirken begriffen werden. Das Ästhetische ist für ihn von Anfang an eine eigenständige Dimension. Gilles Deleuze hat darauf verwiesen, Visconti habe die Zeit auf vier Ebenen realisiert. Da seien zunächst dessen Versuche, eine historische «Ambiance» zu komponieren und danach (auf der zweiten Ebene) zu dekomponieren, einerseits also «die aristokratische Welt der Reichen» zu entwerfen und diese dann andererseits «von innen her (zu) unterwander(n)», sie «undurchsichtig» zu machen und zu «verdunkel(n)». Da sei drittens das «Element» der Geschichte, die das eine Mal «ein autonomer Faktor» sei, «der für sich selbst steht» (wie in Il gattopardo), und das andere Mal nur indirekt wirke, «elliptisch und hors champ» (wie in Ludwig). Schliesslich gebe es, als viertes Moment, «die Vorstellung oder besser die Enthüllung, dass etwas zu spät kommt», das «bei weitem wichtigste» Moment, «da es die Einheit und Zirkulation der anderen sichert.» Was mal auf das gesellschaftliche Leben oder schlicht auf das Alter zielt, wie in Il gattopardo, mal auf verpasste Gelegenheiten, wie in Morte a Venezia oder Gruppo di famiglia in un interno, mal auf den übermächtigen Einfluss alles Vergangenen (wie in Vaghe stelle dell’ Orsaoder Ludwig). Diese Dominanz der Zeit bei Visconti zielt auf ein Doppeltes: auf die Präsenz der jeweiligen Oberflächen (also auf die Transparenz von Thema und Geschichte) und auf das besondere Timbre dieser Oberflächen; man könnte auch sagen: auf die Vision dahinter (also auf die Konstruktion von Handlung und Bild, die als «Hineinversenken» in die Zeit angelegt ist).

Inzwischen ist es üblich, strikt zu differenzieren zwischen den frühen, eher neorealistischen Werken und den späten, eher opernhaften Arbeiten, zwischen dem Verismus der vierziger und den Entwürfen des Verfalls der sechziger und siebziger Jahre. Ein wenig wird dabei übergangen, wie ästhetisch präzise schon in Ossessione und La terra trema durch sorgfältige Rahmung, durch lange, geradezu schwebende Kamerafahrten, durch gleitende Montagen – Realität konstruiert ist. «Eigentlich», so Frieda Grafe schon 1977, habe doch «gar kein Bruch stattgefunden zwischen seinen neorealistischen Anfängen und seinen Ausstattungsfilmen, in denen seine Sorge ums realistische Detail zu Häufungen führt, die wie von selbst sich ins Überdimensionale steigern.»

Il gattopardo und Rocco e i suoi fratelli (wie später auch Ludwig) sind zudem epische Filme: mit Bildern einer sich verändernden Gesellschaft, die wie authentische Nachrichten aus einer vergangenen Zeit wirken. Eine durch Bilder und Bilderrhythmen neu geschaffene Realität wird geboten – so mythisch wie visionär.

Durch lange und langsame Schwenks und Fahrten entsteht eine Ruhe, die das Gefühl für die epische Darstellung vertieft. Dinge und Menschen werden zur Einheit gebracht, ohne dass ein zusätzlicher Anspruch spürbar würde. In Il gattopardo nutzt Visconti den Staub, der auf den Kleidern seiner Protagonisten liegt, als metaphorisches Zeichen: Der Fürst ist mit seiner Familie gerade in seiner Sommerresidenz eingetroffen. Mit Musik empfangen, von den Honoratioren begrüsst, zieht die gesamte Familie schliesslich in die Kirche ein. Dort setzen sie sich auf ihre angestammten Plätze. Dabei liegt auf den Mänteln und auf ihren Gesichtern noch der Staub der Reise. Viscontis Kamera ist der Eindruck, der dadurch entsteht, einen langen registrierenden Blick wert. So sieht die Fürstenfamilie plötzlich aus, als seien es lebende Tote.

Durch Äusseres zu Innerem

Altes – Neues, Adel – Bürgertum, Süden – Norden, aber auch: arm – reich, reaktionär – progressiv: Die grossen Gegensätze bilden die Triebfedern in Viscontis Tragödien. Der Untergang/die Auflösung des einen ermöglicht den Aufstieg des anderen. «Wir waren die Löwen, die Leoparden; Schakale und Hyänen werden uns ersetzen», flüstert in Il gattopardo der Fürst einem Vertreter der neuen Zeit einmal nach. «Doch alle zusammen, Hyänen und Schakale, Löwen und Leoparden werden glauben, dass sie das Salz der Erde sind.» Diese Vision von der Zukunft begreift bereits den Anspruch der neu aufkommenden Klasse und ihrer Charaktermasken. Während das Alte allein noch den Glanz besitzt, hat das Neue längst die Gewalt – das Geld und die Waffen.

La caduta degli dei 04

Bei Visconti ist die Darstellung der Zeit, dies als zentrale These, eine Frage der Konstruktion. Realismus ist in seinem Werk nicht missverstanden durch den Schein, der von den Inhalten ausgeht, sondern angenommen als Technik, als Darstellungscode. Erzählt wird immer, was eine irreale Vision des Wirklichen entwirft. Bei Visconti wirkt die Struktur des Wirklichen tiefer als die Schilderung des Wirklichen.

Die Vorbilder für Viscontis präsentische Ästhetik, häufig genannt: Erich von Stroheim und seine erzählerische Kraft der Transparenz, die nichts suggeriert, sondern sichtbar werden lässt; sowie Jean Renoir und seine innovative Mise en scène, bei der die Figuren über die Ordnung im Raum ihr Innerstes offenbaren. Wie die beiden Filmemacher vor ihm neigt auch Visconti, so unterschiedlich sie alle in den Themen sind, zu authentischen Oberflächen, rigorosen Formen, schneidenden Konturen. Auch er arrangiert nichts, was bloss den Schein garantiert, sondern nimmt allein die tatsächlichen Gegenstände und Milieus. Wobei die Dichte der Inszenierung auch stets Resultat der Dauer ist, in die das Geschehen gedehnt ist.

Bei Visconti, schreibt Gilles Deleuze, werden «die Gegenstände und Milieus zu einer autonomen materiellen Realität, die ihnen einen eigenständigen Wert verleiht. Nicht nur der Zuschauer, auch die Protagonisten müssen nun die Milieus und die Gegenstände durch den Blick besetzen, sie müssen die Dinge und Leute sehen und verstehen, damit die Aktion oder die Passion entsteht und in den Alltag eindringt, der immer schon abläuft.» Es sind vor allem alltägliche Dinge, die – als kontradiktorische Elemente – dem Prunk des Grandiosen eine seltsame Erdenschwere verleihen. Eine ästhetische Strategie, die der Ekstase das Kalkül entgegensetzt, dem schnellen Galopp den ruhigen Trab, dem jubilierenden Fest die nüchterne Farce. Essensreste und Geschirr, unentwegt und überall, das die Leidenschaft zwischen Gino und Giovanna konterkariert (in Ossessione). Die Fliegen auf dem Hemd des Grossvaters, während er viel Geld in den Händen hält, erstmals in seinem Leben (in La terra trema). Die unzähligen Urintöpfe auf dem grossen Ball (in Il gattopardo). Die Hortensien und Gardenien in Morte a Venezia: schwere Blumen, die einen starken, süssen Duft ausstrahlen. Und in Ludwig: die Uniformen zu Beginn; der Prunk der Interieurs; die Kutschen; die überdachte Yacht; der Schmuck, der nach und nach verschenkt wird; und der Champagner, der unentwegt fliesst. Menschen inmitten von Dingen, die dem Drama eine deutlichere Kontur geben: es beschreiben und zugleich kommentieren. So wird äusserlich sichtbar, was im Innersten vorgeht.

Die Magie der Oberflächen: präsentiert durch Architektur und Interieur, durch Garderobe und Dekor, durch Zeremonien, Galadiners, Etikette. In Senso, Il gattopardo und Ludwig ist dieser Prunk nicht allein Zeichen für Reichtum, sondern Ausdruck von Lebensstil, von Jahrhunderten alter Kultur. Viscontis Blick wirkt dabei veristisch, als wären die glitzernden Dingwelten der geheime Schlüssel, um die Seele ihrer Bewohner zu enträtseln. Für Frieda Grafe «massiert» Visconti Details, er «fetischisiert alles Gegenständliche», «übertreibt Äusserlichkeit» und «treibt das Reale in den Wahnsinn.» Wodurch, wie sie schreibt, ganz unerwartet «Innenwelten sich auf(tun).»

“Anthropomorphes Kino”

Luchino Visconti, 1943: «Was mich … in erster Linie zum Kino geführt hat, ist die Verpflichtung, die Geschichten lebender Menschen zu erzählen. Menschen, die inmitten der Dinge leben, wo nicht die Dinge für sich selbst stehen.

Das Kino, das mich interessiert, ist ein anthropomorphes Kino …

Die Erfahrung hat mich als erstes gelehrt, dass es die physische Erscheinung eines menschlichen Wesens ist, seine Präsenz, die ein Bild wirklich ausfüllt, dass es allein die “Ambiance” erzeugt durch seine körperliche Anwesenheit, dass es allein durch die Leidenschaften, die es bewegen, an Wahrheit und Ausdruck gewinnt. So dass schliesslich sogar seine nur vorübergehende Abwesenheit von der Leinwand alle Dinge wie zu einem Stilleben erstarren lässt.

Die bescheidenste Geste eines Menschen bereits – ein Schritt, ein Zögern, eine Bewegung – verleiht den Dingen seiner Umgebung, in deren Mitte er seine Bestimmung findet, Poesie und bringt sie zum Schwingen.»

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Ludwig

In Ludwig wird das Alleräusserste in den Zielen präsentiert, auch das Allerhöchste im Gefühl – in der Liebe zu Elisabeth, in der Bewunderung für Wagners Musik, in der Politik gegen den Krieg, in der Prunksucht bei den Schlössern, im Genuss an den Rezitationen der Schauspieler. Dieses Alleräusserste aber hält gegenüber der Faktizität der Realität nicht stand: Elisabeth verweigert sich seinen Gefühlen, Wagner verrät die hohen Ideale, seine Politiker setzen ihren Willen durch, der Schauspieler gerät in Atem- und Gedächtnisnot. Allein die Schlösser gelingen, sie überragen als Monumente absoluter Masslosigkeit alles andere – und trotzen jedem Gegenzug.

Visconti charakterisiert seinen Ludwig dabei als Zutiefst-Enttäuschten, der sich allerdings weigert, diese Enttäuschungen hinzunehmen. Anfangs selbst ein Körper-Schöner, zieht er sich schliesslich immer weiter in sich zurück (und mutiert zum körperlichen Wrack), er zieht sich zurück in eine hermetisch abgeriegelte Welt, die am Ende zum Albtraum wird: statt der schönen Elisabeth nun hübsche Lakaien; statt Wagners Opern nun Schuhplattler auf der Zitter oder dem Akkordeon; statt der grossen Staatsgeschäfte nun die kleinen Privatvergnügen; statt dem Prunk der märchenhaften Schlösser nun abgedunkelte, nur von Kerzen beleuchtete Gemächer.

Als ästhetische Strategie ist dabei das Prinzip des Nebenbei zu konstatieren (und das unterscheidet Ludwig von anderen Filmen Viscontis): Vieles, was um Ludwig herum an Entscheidendem geschieht, ereignet sich jenseits des Sichtbaren (auch wenn es Bilder gibt von Sophies Verzweiflung, vom kranken Bruder, von der Absetzung). Doch: Keine Bilder vom Krieg, keine Bilder von der Wandlung vom Heiratswilligen zum Bindungsüberdruss, keine Bilder vom Bau der Schlösser. Am Ende auch (anders als in Helmut Käutners Ludwig II.) keine Bilder vom Gang ins Wasser; stattdessen Bilder der Suche – mit Booten und Fackeln (wie bei Friedrich Wilhelm Murnau in Tabu). Es ist eine Ästhetik der halluzinatorischen Vision, der Visconti hier folgt. Zu sehen ist Ludwigs Verhalten: die Reaktion auf das, was geschieht, die Schwärmerei und Übersteigerung, gegenüber Wagner wie gegenüber Elisabeth, die Verstiegenheit, der Grössenwahn, auf der anderen Seite aber auch die Ohnmacht gegenüber den Forderungen Preussens wie gegenüber dem Komplott am Ende.

Das Besondere an Ludwig ist auch, dass Visconti seinen Protagonisten konturiert, indem er sichtbar werden lässt, wie der, während er alle Veränderungen blockiert, nur zum Verlierer werden kann. All seine Leidenschaften (für Elisabeth wie für Wagner) enden in Erstarrung und Dunkelheit. Am Ende müssen sogar die Zimmer abgeschottet werden, auf dass nichts mehr eindringt von aussen und so allein die inneren Vorstellungen regieren, die Träume und Visionen. Bild für Bild wird transparent, wie einerseits Ludwig seine Obsessionen in den Exzess treibt und andererseits gerade diese Exzesse zu Verfall und Zusammenbruch führen.

«Was wollen Sie eigentlich?» fragt Elisabeth ihn einmal. «Ihre Pflicht ist es, die Wirklichkeit zu sehen!» Auf diesen Vorwurf vermag Ludwig nur mit Schweigen zu reagieren. So gelingt es ihm auch nicht mehr, und dies verdeutlicht Visconti mit Nachdruck, seinen Idealen treu zu bleiben. Indem Ludwig festhält an der Illusion des Schöpferischen, auch und gerade in seinem Leben abseits des Offiziellen, verliert er die Kraft (und die Position) zur schöpferischen Gestaltung. Sein Weg, so Wolfgang Storch, zeige «Station für Station die Verluste, die er als König zu verantworten hatte.» Wider besseren Wissens habe er schliesslich «immer nur nachgegeben». So kann er auf Bismarcks Angebot, Bayern in das Deutsche Reich einzugliedern, nur noch mit Aufschrei und Zorn reagieren.

Letztlich ist Ludwig eine Fantasie über die Agonie eines Strebens nach dem Absoluten: auch ein Spiel um Umwandlung und Utopie, das nur im Untergang münden kann, in der Zerstörung der hehren Träume wie des hinfälligen Körpers. Deleuze sprach in diesem Zusammenhang von einer «Vergangenheit», die fortbestehe, vereinnahme, verschlinge und Viscontis Protagonisten «genau in dem Augenblick jegliche Kraft» nehme, «in dem sie sich in sie versenken».

“Wir sind nur Pomp”

«Menschen wie wir machen keine Geschichte mehr. Wir sind nur Pomp. Uns gibt man höchstens noch Geschichte, indem man uns tötet!» Sissis Worte zu Ludwig sind voller Trauer und Wehmut. Sie weisen auf eine feudale Vergangenheit, deren Absolutheit für immer aufgehoben ist, und betonen zugleich die Nostalgie einer Gegenwart, die den Zerfall der einstigen Macht mit Verve zu goutieren sucht. Wie ein Reflex darauf wirkt es dann, wenn Ludwig sich weigert, die Realität in ihrer Faktizität anzuerkennen, wenn er den Krieg, den seine Armeen gegen Preussen führen, strikt missachtet: «Sagt den Generälen, dem König ist der Krieg nicht bekannt!»

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Anders als in seinen anderen Filmen hat Visconti in Ludwig ein gestisches Moment integriert. Er lässt (in insgesamt vierzehn Einschüben) einige seiner Figuren als Zeugen (einer imaginären Verhandlung) auftreten, die – mit direktem Blick in die Kamera – den Lauf der Zeit vorwegnehmen. Oder anders: Einige Figuren reden, erklären, bekennen, als seien sie Interviewpartner eines imaginären Erzählers, der zunächst einmal feststellen lässt, was passiert, bevor er dann im Einzelnen ausführt und belegt, was zuvor gesagt wurde: Da ist zunächst der langjährige Minister Graf von Holnstein, der den König seit seiner Amtsübernahme begleitet und nun «die delikate Frage» zu erörtern hat (als Vorausgriff aufs Ende des «historischen Porträts»), ob «ihre Majestät noch imstande ist, unser Bayern zu regieren»; dann ein Minister, der berichtet, Ludwig sei es anfangs nur um eines gegangen: «Meister Wagner» nach Bayern zu holen; und der neue Leib-Lakai, der den Lebensstil des Königs «der Würde eines Souveräns angemessen» findet; da ist der Arzt und seine Hinweise auf die Verschlimmerung der Situation nach der Auflösung der Verlobung mit Sophie, da Ludwig sich nicht länger um die Staatsgeschäfte gekümmert habe, sondern nur noch um den Bau der Schlösser, «die niemand je bewohnen wird»; und der Diener, der berichtet, wie sehr der König das Geld verschleudere, für hübsche Lakaien oder stimmgewaltige Schauspieler; dann der Minister, der bekennt, wie widerstrebend er Geld an Wagner in Bayreuth überwiesen und den Bau der Schlösser überwacht habe; und der Lakai, der erzählt, wie Ludwig nach Elisabeths letztem Besuch geweint und ihren Namen geschrien habe; schliesslich der Nervenarzt Professor Gudden, der bei Ludwig «Paranoia» diagnostiziert, die ihn unfähig mache, «sich um seine Regierungsangelegenheiten zu kümmern».

Diese Einschübe gliedern nicht nur den Film, sie sind vor allem Brüche in der Chronik des Niedergangs, die auf das Gestaltete der Szenerie verweisen: auf die Erzählung im Erzählten, die Darstellung im Dargestellten. Bernd Kiefer hat darauf verwiesen, dass «Rätselhaftigkeit, Unbestimmbarkeit und Alterität schon des eigenen Seins (…) ästhetische Kategorien der Moderne» seien – und so Ludwigs Leben (als Folge «von ästhetischer Kreativität und existentiellem Leiden») als Ludwigs Bühne eines ästhetischen Werkes beschrieben. Das ist ein guter Einstieg für ein tieferes Verständnis von Viscontis Ludwig. Es zielt auf die Überhöhung des Existentiellen durch künstlerische Entwürfe, die notwendig scheitern.

Der Film ist wieder und wieder als Reflexion über das Verhältnis von Kunst und Politik charakterisiert worden. Ludwig gilt deshalb einerseits als Diskurs über die Freiheit der Kunst, über die Suche nach dem absolut Schönen (man denke etwa, in Bezug auf Wagner, an die Verbindung von Poesie und Musik, die zu einer neuen Sprache führe, die von allen Menschen verstanden werde), wobei diese Suche aber scheitert an gesellschaftlichen und politischen Grenzen. Andererseits gilt der Film als Vision von politischen Utopien, die – als Folge der Enttäuschung über die Machtlosigkeit der Kunst – in eine Klage über Niedergang und Scheitern mündet. Letztlich ist Ludwig ein meisterliches Paradigma des ästhetischen Realismus: die detailbesessene Konstruktion einer historischen Epoche, die als Porträt eines aus der Zeit gefallenen Herrschers, eines im Deleuzeschen Sinne «Zu-Späten» funktioniert, aber auch als Fantasie über die Ohnmacht der Kunst und über die Gewalt politischer Interessen.

Vision, nicht Recherche

«Sie leben nicht in einer Welt, die Gott geschaffen hat», sagt in Il gattopardo Pater Pirrone über die fürstliche Familie zu den namenlosen Bauern, unter denen er zu Hause ist.

Ein Satz, der für viele Helden bei Visconti gilt: für Franz in Senso, der nur Genuss und Vorteil kennt; für Mario in Le notti bianche, der Natalias todessehnsüchtigen Träumereien zu trotzen sucht, ohne ihr damit näher zu kommen; für Meursault in Lo straniero, der sich lethargisch der Lust am Absurden hingibt; für Martin in La caduta degli dei, der in den Taumel von Gewalt und Perversion, Sadismus und Wahnsinn gerät – und darüber sein eigenes Höllenreich errichtet; für Gustav von Aschenbach in Morte a Venezia, der, einsam und verzweifelt, am Lebensende für einen blonden Jüngling entflammt; auch für den Professor in Gruppo di famiglia in un interno, der eine unglückselige Familie in sein Haus aufnimmt und durch sie aus «einem Schlaf geweckt (wird), der tief war wie der Tod».

Es ist ein Universum, das keinen Platz lässt für Götter, auch, weil die titanischen Männer, die Visconti präsentiert, diesen Platz selbst einzunehmen suchen. Viscontis Blick ist voller Neugierde gerichtet auf die untätige, lethargische Lebensweise seiner Helden. Es ist, als suche er, indem er sich auf die Ergründung ihrer Geheimnisse begibt, die tieferen Rätsel der Menschen insgesamt zu erkunden.

«Noblesse und Eleganz, Geist und Charme erwirbt nur, wer ein paar Vermögen durchgebracht hat», heisst es einmal in Il gattopardo. Vielleicht handeln deshalb so viele der Filme Viscontis davon, dass einer sein Vermögen durchbringt, sei es Macht oder Geld, Talent oder Charakter. Die Welt, so historisch und politisch präzise sie auch entworfen ist, in Ossessione, Rocco e i suoi fratelli oder Il gattopardo, Morte a Venezia oder Ludwig, bei Luchino Visonti ist sie letztlich doch Ergebnis nicht von Recherche, sondern von Vision.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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