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Lionel Baier: «Wer nichts riskiert, wird über sich nichts herausfinden»

In La vanité greift Lionel Baier das Thema Sterbehilfe in Form einer Komödie auf. Im Interview spricht er über die verschiedenen Arten von Humor, die Bedeutung von Raum, Landschaft und Dekor und seine Hauptdarsteller Carmen Maura und Patrick Lapp.

Text: Hansjörg Betschart / 02. Nov. 2015

Filmbulletin Lionel Baier, Sie entwickeln immer mehr einen eigenen Stil. Was unterscheidet Sie von anderen?

Lionel Baier Ich kann schlecht beschreiben, was meinen Stil ausmacht. Aber ich kann erklären, wie er jeweils zustande kommt. Ich achte sehr genau auf die Voraussetzungen, weil ich weiss, dass sie sich im Film niederschlagen werden: La vanité ist im Studio gedreht. Das ist schon eine wichtige Entscheidung. Ich wollte das so, weil das Studio einen bestimmten Realismus ausschliesst.

Sie haben sich dadurch viel Freiheit im Umgang mit Licht und Raum verschafft. Sie kreieren damit aber auch etwas Zeitloses: Réalité mit Vanité?

Es bleibt eine bewusste Künstlichkeit. Es ist das Gegenteil von wackelnder Handkamera oder hinreissenden Landschaften. Es entsteht etwas Narratives, wie wir es aus den Vierzigern und Fünfzigern kennen, von Douglas Sirk oder Frank Capra. Nicht realistisch. Eher wie ein Märchen.

Nun ist in Ihrem Film auch das Gebaute selber ein Thema. Der Architekt, der seinen Lebensabend im Motel verbringen will, das er gebaut hat, haben Sie nachbauen lassen. Was war zuerst, der Ort oder die Idee, einen solchen Ort zu bauen?

Es gab in Lausanne einen Komplex der Landesausstellung, der Expo 64, der sehr typisch ist für jene Zeit, mit dem starken Versuch, den Aufbruchsgeist der US-Architektur zu imitieren. Es gibt dieses Schwimmbad nicht mehr. Viele junge waadtländer Architekten sind damals in den sechziger Jahren den Anregungen der Amerikaner gefolgt. Das atmet den Geist der Zeit, diese Sehnsucht nach Fortschritt und Freiheit.

Der Architekt Frank Lloyd Wright war einer Ihrer Vorbilder für den Raum. Bei ihm hat auch Walter Burley Griffin gearbeitet, der, wie Ihre Hauptfigur, auch mit seiner Frau gebaut hat. Ein Vorbild für David Miller?

David will an diesem Ort sterben, weil er ihn – wie Griffin – mit seiner Frau gebaut hat. Es ist ihr gemeinsames Kind. Es gibt keine grössere Verbindung mit dem Leben eines anderen Menschen als die gemeinsamen Kinder.

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Die Architektur ist bei Ihnen – wie vieles – weit mehr als nur ein historischer Verweis: Die Baukunst war damals im Aufbruch. Heute bleibt von jener Zeit nur die Vanité, im Sinne der Vergänglichkeit …

Damals stand sie für den unbegrenzten Zukunftsglauben, für Fortschritt. Heute hat die amerikanische Architektur etwas Ikonenhaftes. Der Raum steht also auch für den Endpunkt dieses Fortschrittsglaubens.

Der Architekt fährt einen aussergewöhnlichen Wagen. Millers Auto fasst sein Leben zusammen: Es hat, wie Helmut Qualtinger einst sagte, eine grosse Zukunft hinter sich.

Der Reliant Scimitar GTE V6 1972 war ein Versuch der englischen Autoindustrie, mit den Amerikanern zu konkurrieren. Auch er ist eine Ikone jener Zeit, die heute etwas «altmodisch» (er spricht das Wort deutsch aus) wirkt.

Kommen wir zu einer anderen Ikone: Carmen Maura ist mit einem der Grossen des europäischen Kinos berühmt geworden. Pedro Almodóvar hat sie immer wieder besetzt. Jetzt haben Sie sie mit Patrick Lapp zusammengebracht, Ihrem Lieblingsschauspieler, der schon in Les grandes ondes (à l’ouest) besticht.

Carmen Maura ist eine grosse Schauspielerin in der Tradition der spanischen Schauspielkunst: Sie kann im Spiel Gefühle leicht nach aussen tragen. Man könnte sagen, sie ist extrovertiert. Sie findet leicht einen physischen Ausdruck für eine Emotion, während Patrick Lapp genau in die andere Richtung funktioniert. Er ist einer, der stark von seinem Gefühl ausgeht, der im Spiel nach innen lauscht. Gefühl ist für ihn ein Lufthauch, den es zu spüren gilt. Das Zusammentreffen der beiden Arten des Spiels ergibt nun eine ganz besondere Mischung, zumal ja auch die Figuren etwas ganz Unterschiedliches voneinander wollen: Der Architekt will sterben, die Helferin will leben. Die wichtigste Frage von Patrick Lapp ist immer: Warum? Während die Frage von Carmen Maura immer lautete: Wie? Wie tut meine Figur das?

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Sie sind bereits seit Jahren Dozent an der Filmhochschule in Lausanne. Sie waren lange der jüngste Professor in der Filmausbildung. Wie inspirieren Sie Ihre Studierenden?

Nun, die Studierenden sind seit einiger Zeit jünger als ich, zum Glück. Ich war tatsächlich lange der jüngste im Kreise der Professoren in Lausanne. Ich gehöre noch zu den Jungen. Das erleichtert mir den Zugang zu den Studierenden. Es ist schwer zu entscheiden, was Ausbildung in einem wachsenden Künstler hinterlässt. Ich lege Wert darauf, dass die Jungen sich nicht nur in der Komfortzone bewegen. Anstatt lange zu warten, bis man Geld erhält, ist es besser, der Phantasie aktiv den Weg zu bereiten. Machen! Man lernt beim Machen am meisten. Man muss sich die Ungeduld erhalten. Das führt meist zu Resultaten, die einen weiterbringen. Von einem Studierenden darf man vielleicht kein Meisterwerk erhoffen, aber erwarten sollte man immer Risiko. Wer nichts riskiert, wird über sich nichts herausfinden.

Sie haben auch begonnen, indem Sie aus Ihren eigenen Filmen gelernt haben?

Ich stelle meinen nächsten Film immer gegen den letzten. Ich habe mit Les grandes ondes (à l’ouest) eine leichte Komödie gemacht. Mit La vanité erforsche ich einen ganz anderen Humor. La vanité ist makaber. Es ist ein Kammerspiel. Das Lachen ist mit viel Trauer vermischt. Mein nächster Film wird wiederum einen anderen Grundton haben. Ich ermutige auch meine Studierenden immer dazu, sich neu zu definieren. Ich versuche immer wieder, meinen ersten Film zu machen.

Sie rücken in La vanité ein Bild aus dem Hintergrund ins Zentrum – indem Sie auf ganz unterschiedliche Art damit spielen. Die beiden Botschafter von Holbein hängen an der Zimmerwand. Erst am Schluss lösen Sie das Rätsel mit einem leisen und einem lauten Witz auf.

Das Bild von Holbein hat mich mehrfach gereizt. Es hängt in der National Gallery in London. Es ist ein Bild, das – wie ein guter Film – sein Geheimnis erst beim genauen Hinschauen preisgibt. Erst will es nicht in das Dekor passen. Dann stehen da zwei Botschafter aus der Renaissance. Dann scheint es gar zu stören. Dann ist da ein spitzer Gegenstand, der in den Kopf des Architekten zielt. Durch das Hinschauen entsteht eine Geschichte des Bildinhalts.

Filmer sind meist Einzelkämpfer. Sie sind das nicht. Sie arbeiten intensiv mit ihren Kollegen Ursula Meier, Frédéric Mermoud und Jean-Stéphane Bron zusammen. Wie?

Als Filmschaffender ist man sehr einsam. Es ist eine grandiose Erleichterung, nicht allein zu sein. Es tut gut, als Gruppe zu funktionieren. Wir zeigen einander die Arbeiten in unterschiedlichen Stadien. Ursula berät mich. Mit Jean-Stéphane telefoniere ich fast täglich. Frédéric Mermoud hat den Film für die Firma produziert. Er ist vom Drehbuch bis zum Schnitt an der Produktion beteiligt. Ich glaube, wenn ich, wie viele in der Schweiz, als Einzelkämpfer arbeiten müsste, hätte ich die Schweiz längst verlassen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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