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Il grande silenzio 2

Der Antiwestern

Jeder italienische Regisseur, der sich je an einem Western versucht hat, wird unweigerlich mit Sergio Leone verglichen. Einer, der als der «andere Sergio» des Italo-Western bekannt ist, war noch viel mehr als Leone darauf aus, das amerikanische Genre zu dekonstruieren und einen regelrechten «Antiwestern» zu schaffen: Sergio Corbucci

Text: Alexander Querengässer / 31. Okt. 2016

Jeder italienische Regisseur, der sich je an einem Western versucht hat, wird unweigerlich mit Sergio Leone verglichen. Obwohl Leone nicht der erste war, der in Italien dieses Genre in Angriff genommen hat, trieb er es doch zu ganz neuen ästhetischen Höhen. Und so fällt das Urteil vieler Filmhistoriker über die Nachahmer selten positiv aus, halten sie alle Western anderer Regisseure doch für einen mehr oder weniger gelungenen Abklatsch der Filme des Maestros. Jeder wird zugeben, dass Leone mit seiner Detailversessenheit und künstlerischen Raffinesse seine Regiekollegen in den Schatten stellt. Und trotzdem gibt es eine ganze Reihe Italiener, die ebenso in der Lage waren, sehr gute, filmhistorisch wertvolle Filme zu drehen: Sergio Sollima, Duccio Tessari, Giuseppe Colizzi, Michele Lupo, Enzo Barboni, Eduardo Mulargia oder Tonino Valerii und auch Enzo G. Castellari. Doch sie alle bewegten sich im Wesentlichen innerhalb der Spielregeln, die Sergio Leones Dollartrilogie vorgegeben hatte. Einer, der als der «andere Sergio» des Italo-Western bekannt ist, war noch viel mehr darauf aus, das amerikanische Genre zu dekonstruieren und einen regelrechten «Antiwestern» zu schaffen: Sergio Corbucci (1926–1990).

Eigentlich kam Corbucci von der Comedia all’italiana her, in der er Ende der Fünfziger, Anfang der Sechziger einige mehr oder weniger erfolgreiche Filme gedreht hatte. Mit dem «Sandalenfilm» Romulus und Remus (Romolo e Remo, 1961) hatte er einen der grössten Erfolge dieses Genres erzielt. Wie so viele seiner Altersgenossen war Corbucci ein Mann, der gleichermassen mit italienischer Populärkultur der Dreissiger bis Fünfziger (Kinokomödien, Groschenheften und Abenteuer- und Krimiliteratur) wie auch den amerikanischen Film noir, Western und Superheldencomics gross geworden war und sie auch im reifen Erwachsenenalter noch konsumierte. Er war ein Westernfan, der ebenso wie Leone oder Tessari davon träumte, selbst einmal in diesem Genre Regie zu führen.

Entmystifizierung eines Genres

Als 1961 Akira Kurosawas Yojimbo in die italienischen Kinos kam, diente er allen dreien als Vorlage für eigene Westerndrehbücher, die 1964/65 in Leones Für eine Handvoll Dollar (Per und pugno di dollari), Tessaris Eine Pistole für Ringo (Una pistola per Ringo) und Corbuccis Minnesota Clay mündeten. Letzterer war der am wenigsten beachtete. Inspiriert von Leones Stil überarbeitete er jedoch sein Script und schuf mit Django den bekanntesten Italo-Western nach allen Leone-Filmen.

Corbucci demontierte damit den Westernmythos noch weiter, als Leone dies je zu tun bereit war. Er verzichtete auf weite Panoramaeinstellungen, die die Unermesslichkeit des amerikanischen Westens verdeutlichen sollten, und tauschte Wüsten und Prärien – neben Colt, Hut und Pferd die markantesten Merkmale von «Cowboy-Filmen» – gegen Schlammlandschaften. Django war mit 4.087.000 Zuschauern allein in Italien Corbuccis erfolgreichster Western.

Doch der Römer zimmerte weiter an der Entmystifizierung des Genres. Während Leones Filme dem US-Western gleichzeitig Hommage und Parodie waren, diesen Rahmen aber nie verliessen, erkannte Corbucci das Potenzial des Italo-Westerns, als der Antiwestern überhaupt zu fungieren. Nach einer Reihe kleinerer Experimente drehte er 1968 Il grande silenzio. In Italien selbst brachte es dieser Film nicht einmal auf eine Million Zuschauer; in Frankreich und Deutschland hingegen war er enorm erfolgreich. Mit ihm erreichte Sergio Corbucci den Zenit seines Schaffens und drehte den vielleicht nihilistischsten Antiwestern überhaupt.

Schneewestern

Obwohl viele der besseren italienischen Westernregisseure in ihren Filmen oft ein postmodernes cineastisches Zitatfeuerwerk entfachen, folgt dieser Film im Wesentlichen nur einem amerikanischen Vorbild: Day of the Outlaw (US 1959) von André de Toth, einem Schwarzweissfilm, in dem ein paar gesuchte Verbrecher ein eingeschneites Dorf in den Rocky Mountains in ihre Gewalt bringen. Corbucci, der zusammen mit seinem Bruder Bruno, Vittoriano Petrilli und Mario Amendola das Drehbuch verfasste, übernahm das Grundkonstrukt des Vorbilds und schuf damit im natürlichen Raum bereits eine für den Western vielleicht nicht mehr neue, aber ungewöhnliche Umgebung: aus den heissen Prärien wurden die frostigen Berge der Rocky Mountains. Auch Snow Hill ist ein durch einen Schneesturm nur schwer zugängliches Bergdorf.

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Durch die extremen Wetterbedingungen und die Machenschaften von Grossgrundbesitzern wurden viele Farmer kriminell, um zu überleben. Dafür werden sie von Kopfgeldjägern verfolgt, die ihre Opfer am liebsten tot abliefern und bei Corbucci anstelle der Outlaws stehen. Die Regierung will dem Treiben ein Ende setzen und schickt bis zur Generalamnestie den ehrbaren Sheriff Burnett in die Berge, um für Ordnung zu sorgen. Gleichzeitig taucht dort der stumme Silence (Jean Louis Trintignant) auf. Auch er ist im Prinzip ein Kopfgeldjäger, doch lässt er sich von den Hinterbliebenen bezahlen, um die Mörder ihrer Angehörigen zu jagen. Die Mörder provoziert er dazu, die Waffen zu ziehen, um sie dann legal zu töten. Sein Widersacher ist der gewiefte Loco («der Verrückte»; im Original «Tigrero», gespielt von Klaus Kinski), doch als es zum ersten Showdown zwischen den beiden kommt, kann Burnett eingreifen und Loco festnehmen. Kurz darauf kann Loco den Sheriff töten und fliehen. Er sammelt alle Kopfgeldjäger um sich, um die Gesetzlosen gefangen zu nehmen. Anschliessend benutzt er sie als Geiseln, um den verwundeten Silence zum finalen Duell herauszufordern. Es ist weder ein gleicher noch ein fairer Kampf, bei dem die Geiseln und Silence sterben.

Obwohl Corbucci in diesem Film nur wenige cineastische Anspielungen macht, ist er doch voll von literarischen, historischen und zeitpolitischen Querverweisen. Er, der eigentlich als der visuell kreativste Regisseur Italiens galt, verzichtet hier zugunsten einfacher, aber ausdrucksstarker Bilder auf das populäre Breitwandformat oder ausgefallene Kameraperspektiven und -bewegungen.

Auch die Filmmusik Ennio Morricones ist komplett untypisch, sowohl für den klassischen US-Western als auch den Italo-Western, dessen musikalischen Stil Morricone selbst geprägt hatte und der bestimmt war von E-Gitarren und Trompetensoli. Für Il grande silenzio setzte der Komponist auf ein Xylophon, das die Kälte der Winterlandschaft noch unterstreicht. Die Musik ähnelt eher den Scores der jidai-geki (der historischen Samuraifilme) Akira Kurosawas. So wird ein musikalischer Bezug zu diesem Genre hergestellt und Silence viel stärker als Western-Ronin charakterisiert.

Figurenzeichnung

Interessant ist die Art, wie Corbucci seine Figuren einführt. Dabei übernimmt er eine Bildsprache, wie Leone sie schliesslich bei der Vorstellung seiner Protagonisten in den letzten beiden Dollarfilmen benutzte. In Zwei glorreiche Halunken (Il buono, il brutto, il cattivo, I/USA 1966) lässt Leone jeden der drei Protagonisten in seiner jeweils ersten Szene drei Gegner töten. Dies drückt ihre Gleichwertigkeit im Umgang mit der Waffe aus. Am Ende stehen sich alle drei im Kampf auf Leben und Tod gegenüber. Die Zahl Drei spielt hierbei eine entscheidende Rolle. Bei Corbucci ist es weniger dieses Zahlenspiel, doch jeder seiner Protagonisten wird mit einem Kampf eingeführt, der sein Schicksal und seinen Charakter definiert.

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In der ersten Szene tötet Silence mehrere Kopfgeldjäger im Auftrag der Ausgestossenen, die zwar Augenzeugen sind, aber ihm keine Hilfe leisten, genau wie im finalen Kampf: Silence ist allein, und die gefangenen Gesetzlosen sind unfähig, ihm zu helfen. Loco steht einem einzelnen Gesetzlosen gegenüber, dem er mit List auflauert, der aber letztendlich von einem seiner Kollegen getötet wird. Auch im letzten Kampf konfrontiert er den einsamen Silence gemeinsam mit seinen Freunden, und diese sind es, die Silence kampfunfähig machen, bevor Loco ihn endgültig tötet. In einem fairen Duell wäre Silence schneller gewesen. Burnett schliesslich trifft bei seiner ersten Begegnung auf die hungernden Gesetzlosen, kann sich aber nicht wehren, weil sein Revolver bei der Kälte nicht funktioniert. Doch diese Szene legt bereits klar und deutlich die Opferrolle für Burnett fest. Corbucci macht dies auch visuell deutlich. Burnett sieht den Vater Tod selbst in dieser Szene. Der erste Gesetzlose, den er sieht, trägt eine Sense, die sich langsam ins Bild schiebt, bis der mit schwarzer Kapuze versehene Träger sichtbar wird. Burnett stirbt später, als Locos Gewehrkugeln das Eis unter ihm einbrechen lassen: Letztendlich stirbt der Sheriff durch die feindselige Natur. Corbucci definiert also das Schicksal der Figuren jeweils bei ihrem ersten Auftritt.

Die zweite Szene eines jeden Protagonisten definiert seinen Charakter. Silence, der in einem Schneesturm sein Pferd verloren hat, kommt an eine Postkutschenstation, wo eine Frau gerade ihren von einem Kopfgeldjäger getöteten Sohn begräbt. Die sakrale Musik Ennio Morricones charakterisiert Silence als Erlöser, der die Menschen von Snow Hill befreien soll. Die Mutter bittet ihn, den Mörder ihres Sohnes, der in der Postkutschenstation rastet, zu töten. Silence erfüllt den Auftrag. In dieser Szene entfaltet sich eindrucksvoll Corbuccis schlichte, aber ausdrucksstarke Bildsprache. Das Flehen der Mutter endet mit einer Einstellung, die ihre zum Gebet gefalteten, sauberen und weissen Hände zeigt. Ein Schnitt auf den Mörder ihres Sohnes folgt, dessen dreckige Hände sich in ein Brathähnchen graben.

Im Laufe des Films wird Silence allerdings als wesentlich irdischere Erlöserfigur entlarvt. Er tötet nicht aus Prinzip, sondern für Geld (ein wesentliches Motiv des Italo-Western), obwohl eine traumatische Kindheitserinnerung dazu führte, dass er Kopfgeldjäger hasst. Da er stumm ist, schreibt er einmal seine Geldforderung auf das Schmutzblatt einer Bibel – wieder ein parodistischer Verweis auf seine sakrale Funktion. Die Beträge, die er fordert, entsprechen stets dem Kopfgeld, das seine Gegner für ihre Opfer erhalten haben. Auf dieser Ebene gleicht sich der «Held» also den Schurken an. Auch die Art, wie er sie tötet, indem er sie dazu provoziert, die Waffe zu ziehen, gleicht der Methode seiner Gegner, die nur töten, wenn sie ein Kopfgeld kassieren. Silence benutzt keinen Revolver, sondern eine deutsche Mauser C 96 Pistole, ein Symbol für das Ende des klassischen Westerns. Die Waffe macht ihn auch seinen Gegnern technisch überlegen. Trotzdem wird Silence als typischer, überzeichneter Italowesternheld gezeichnet.

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Loco als Antagonist wird schliesslich als moderner Dämon skizziert. Nicht ohne Grund besetzte Corbucci die Rolle mit dem blonden Deutschen Klaus Kinski. Die Figur und ihre Taten stellen etliche Verweise auf die Kriegserfahrungen dieser italienischen Regiegeneration dar, die in allen möglichen Genre- und Kunstfilmen verarbeitet wurden. Loco ist der kaltblütige, berechnende deutsche SS-Offizier, der über seine Toten genau Buch führt: ein Verweis auf die organisatorische Gründlichkeit, mit der die Nationalsozialisten Juden und Slawen in ihren Konzentrationslagern hinrichteten. Die abschliessende Geiselnahme mit dem Massaker an den Gesetzlosen findet ihren historischen Bezug im Massaker in den Adreatinischen Höllen, wo die SS 1944 als Vergeltungsmassnahme 335 römische Bürger töten liess. Dieses jedem Römer ins Gedächtnis eingebrannte Ereignis wird nicht nur in Corbuccis Film zitiert, sondern später auch von Leone in seinem Revolutionswestern Todesmelodie (Giu la testa, I/USA 1971).

Kinski nutzte sein Image auch für seine Rollenentwicklung. Bei einer Gelegenheit am Set verweigerte er Frank Wolff, einem amerikanischen Juden, die Begrüssung per Handschlag und begründete dies damit, dass er Juden hasse. Nur mit Mühe konnte Corbucci eine Schlägerei verhindern. Als er, der eigentlich nie für strenge Schauspielerführung bekannt war, Kinski beiseite nahm, erklärte dieser freimütig, dass dies alles Absicht sei. Da Loco und Burnett sich im Film hassten, wollte er Wolff auf diese Art provozieren, damit er die gemeinsamen Szenen mit echtem Hass in den Augen spielen könne. So makaber dies klingt, ist dies doch letztendlich lediglich ein Beispiel der damals oft angewendeten Method-Acting-Methode.

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Mit Burnett selbst nimmt Corbucci die klassische amerikanische Westernheldfigur, den Sheriff, auf die Schippe. Frank Wolffs Figur ist zwar ein ehrbarer Mann und guter Revolverschütze, wie er bei einem Schiesswettbewerb mit Silence demonstriert. Er wirkt aber gerade durch seine Gesetzes- und Prinzipientreue eher lächerlich. Loco meint sogar ironisch, er sehe eher aus wie ein Viehhändler. Tatsächlich wirkt der verdrückte Hut Burnetts wenig achtbar. Genau diesen fast Don-Quichote-haften Sherifftypus bringt Corbucci ein Jahr später noch mal in seinem Western Fahrt zur Hölle ihr Halunken (Gli specialisti, I/F 1969) ein, diesmal gespielt von Gastone Moschin. Burnett ist letzten Endes das etwas komische, aber legale Spiegelbild von Silence und macht ebenso deutlich, dass der Kampf eines Einzelnen gegen das organisierte Verbrechen keine Chance hat, auch aufgrund der Korruption innerhalb des Staates.

Den korrupten Staat verkörpert der Friedensrichter von Snow Hill, Pollicut, gespielt von Luigi Pistilli. Er verdient an den Morden der Kopfgeldjäger mit, da er als Besitzer des einzigen Geschäfts in der Stadt den Hinterbliebenen (in der Regel Frauen) teure Kredite anbietet. Böse Zungen könnten behaupten, dass er damit dem jüdischen Klischeebild der NS-Zeit entspricht. Doch Corbucci ist Italiener, und Pollicuts Vereinigung politischer und wirtschaftlicher Macht ist eine direkte Anklage an solche Missstände sowohl in der italienischen, als auch der amerikanischen Gesellschaft jener Zeit. Dass er darüber hinaus direkt mit dem organisierten Verbrechen (den Kopfgeldjägern) zusammenarbeitet, verweist auf die in Italien in den sechziger Jahren mehr und mehr zu Tage tretenden Verstrickungen von Politik und Mafia. In einer Rückblende wird schliesslich deutlich, dass Pollicut auch Silence' Eltern an Kopfgeldjäger verraten hat, er ist zudem also ein opportunistischer Denunziant, der nur so seinen sozialen Aufstieg feiern konnte.

In Pollicut kommt die Corbuccis bitterböse zeitgenössische Gesellschaftskritik zum Ausdruck. Sie lässt sich auch am Verhältnis zwischen Silence und der Schwarzen Pauline lesen. Ihr Mann wurde von Loco getötet, der danach sarkastisch feststellte, dass er ihm doppelt so viel Kopfgeld einbringt («zweimal so viel Wert ist») wie ein Weisser. Loco ist also Rassist. Silence ist es nicht, denn er verliebt sich in Pauline. Der fehlende Rassismus ist fast die einzige Eigenschaft, die Silence positiv von Loco abhebt.

Schwarzweisskontraste

Es ist schon angesprochen worden, dass Corbucci in diesem Film auf die damals populären Effekte wie Breitwandformat, lange Kamerafahrten, kreative Perspektiven, schnelle Schnitte und anderes verzichtete. Das Corbucci sie dem Zuschauer verweigert, gehört auch zu seinem Spiel, Genreregeln zu ignorieren. Das heisst aber nicht, dass die Bildsprache von §Il grande silenzio primitiv sei. Im Gegenteil. In einer der ersten Einstellungen taucht Silence als vollständig schwarzer Reiter in einer weiten Schneewüste auf. Wenig später jagt Loco, als schwarze Silhouette sichtbar, einen Gesetzlosen durch einen dunklen, verschneiten Wald. Die Schwarzweisskontraste wirken scherenschnitthaft. Dieses simple Farbspiel ist eine Referenz an Day of the Outlaw, De Toths Schwarzweiss-Western. Corbucci überträgt dieses Spiel sogar auf Silence, den Weissen im schwarzen Rächerkostüm, und Pauline, der Schwarzen im weissen Kleid, dem Symbol ihrer Unschuld.

Auch das Wetter nutzt der Regisseur geschickt, um die Stimmungen im Film vorzugeben. In der Titelsequenz, als Silence sich nach Snow Hill begibt, gerät er in einen Schneesturm, Zeichen des Chaos, das den Ort im Griff hält. Der Sturm legt sich, doch der Himmel ist immer noch bewölkt, als er in dem Ort ankommt. Nachdem er und Burnett Loco und die Kopfgeldjäger ausgeschaltet haben, verschwinden Nebel und Wolken und die Sonne kommt zum Vorschein, es fängt sogar etwas an zu tauen. Doch als der Kopfgeldjäger das Blatt wendet und seine Bande um sich schart, legt sich erneut dichter Nebel über Snow Hill. Selten wurde das Wetter so konsequent als Spiegelbild einer filmischen Stimmung eingesetzt wie hier.

Silence (im Original Silencio) ist schon dem Namen nach der stumme Held. Er ist tatsächlich stumm, da ihm als Kind die Gurgel durchgeschnitten wurde. Corbucci treibt mit dieser Figur das schon im US-Western vorhandene, durch Leone später weiter herausgestrichene Bild des wortkargen Gunman mit schwarzem Humor auf die Spitze. Marcello Mastroiani behauptete später einmal, er habe Corbucci gefragt, ob er nicht einen stummen Westernhelden spielen dürfe. Er wolle unbedingt mal in einem Western mitspielen, spreche aber kein Englisch, was schlecht war, da viele Italowestern damals auf Englisch gedreht wurden, um sie am US-Markt besser zu verkaufen, während sie für das heimische Kino synchronisiert wurden. Die gleiche Geschichte erzählt aber auch Trintignant.

Versehrte Hände

Ein ganz wichtiges Bildmotiv bei Corbucci sind die Hände. Silence schiesst jenen Gegnern, die er nicht töten will, die Daumen ab, damit sie keinen Revolver mehr spannen können (was aber mit zwei Händen immer noch ginge). Hier greift Corbucci ein Bild mittelalterlicher Strafjustiz auf. Die Hand, die stiehlt, wurde damals gerne als Strafe und zur Mahnung abgehackt. Bei ihm wird die tötende Hand verstümmelt.

Ganz anders gestaltet sich dieses Motiv der zerstörten Hände beim Helden. Bereits in Leones Für eine Handvoll Dollar wird dem Helden in einer Folterszene die Schusshand zertreten. In Corbuccis eigenem §Django werden sie von Pferden zertrampelt (hier verweist der Regisseur bereits auf die mittelalterliche Bestrafung, den Djangos Hände werden zerstört, weil er den Banditen Gold gestohlen hat). Die Verweise, die er mit dieser Zerstörung macht, sind vielseitig. Sie beziehen sich zum einen auf die versehrten Hände Jesu. Da auch Silence als Messias dargestellt wird, liegt dieser Bezug quasi auf der Hand. Dazu kommt auch eine Parallele zu Che Guevara, dem Corbucci den Film gewidmet hat und dem nach seiner Ermordung auch die Hände abgeschnitten wurden. Noch bevor Silence im Schlussduell die Daumen abgeschossen werden, verbrennt er sie sich bei einem Kampf mit Pollicut. Damit greift Corbucci den bekannten römischen Mythos von Gaius Muccius Scaevola auf. Dieser hatte sich bei einer Belagerung Roms 508 v. Chr. ins etruskische Lager geschlichen, um den König Lars Porsenna zu töten. Als er gefangen wurde, liess Porsenna die rechte Hand des Römers in einem Kohlebecken verbrennen. Scaevola unterdrückte jeden Schmerz, und die Etrusker brachen beeindruckt die Belagerung ab. Im Film möchte Silence zwar schreien, aber da er stumm ist, kann er keinen Laut von sich geben. Ein typisches Beispiel für Corbuccis schwarzen Humor und ein Verweis auf den Mythos.

Kein Happy End

Corbuccis Film könnte trotz aller Demontagen traditioneller Westernmythen bis zum Ende als klassischer Italo-Western funktionieren. Es ist der Schluss, der seine schockierende Stellung als Antifilm manifestiert. Silence stellt sich dem Zweikampf mit Loco. Er wäre ihm fast überlegen, doch die Freunde des Kopfgeldjägers haben ihre Gewehre bereits im Anschlag und zerschiessen ihm die Hände, was aber nichts ausmacht, da er mit seiner automatischen Waffe auch so feuern könnte. Als er trotzdem die Pistole hebt (er ist schneller als Loco), trifft ihn eine weitere Kugel eines anderen Kopfgeldjägers, ehe Loco ihm in den Kopf schiesst. Pauline eilt herbei, um ihn zu rächen und wird ebenfalls niedergeschossen. Anschliessend werden die Gefangenen massakriert. Es ist dieser vollständige Triumph des Bösen, die das Opfer des Messias sinnlos erscheinen lässt. Alles, wofür der US-Western einmal stand, wird durch dieses Ende ins Gegenteil verkehrt: Die Frau stirbt, die Bösewichte bleiben unbestraft, dem Gesetz wir keine Genugtuung getan. Was der Italo-Western als neue Motive eingeführt hat, wird nun verweigert: Der Held kann die Rache seiner Geliebten nicht erfüllen und wird in dem Moment niedergestreckt, als er etwas Selbstloses tun will. Corbucci widmete den Film neben Guevara auch Martin Luther King und Jesus. Alle drei fliessen ihm Charakter des Silence zusammen: der religiöse (Jesus), ethische (King) und soziale (Guevara) Revolutionär. Ihre Opfer haben in der realen Welt aber bisher noch keine Besserung bewirkt. Überhaupt ist die Komposition von Silence Tod eine der Schlüsselszenen des Films und typisch für Corbuccis Umgang mit amerikanischen Westernmythen. In der Rückblende, in welcher der Stumme sich die Ermordung seines Vaters noch einmal ins Gedächtnis ruft, tritt dieser als der klassische amerikanische Pionier im Sinne John Fords auf. Er ist der Siedler, der Haus und Familie verteidigt. Was er tut und warum er von den Kopfgeldjägern gejagt wird, erklärt der Film nicht, aber die Ereignisse in Snow Hill implizieren, dass auch Silence’ Vater nicht wirklich ein Verbrecher gewesen war. Er versucht sich den drei Kopfgeldjägern zu stellen, die sein Haus zu stürmen drohen. Doch anstatt durch die Vordertür fällt der entscheidende Schuss aus einem Seitenfenster – ein Gehilfe der Kopfgeldjäger feuert den tödlichen Schuss ab. Genau dies geschieht Silence, als er auf Loco fokussiert ist, der ihn im Türrahmen des Saloons erwartet. Der entscheidende Schuss wird vorher von einem Mann im Fenster abgegeben. Allerdings sind jetzt die Rollen vertauscht. Silence ist nicht mehr der Mann, der seine Familie im vermeintlich sicheren Haus verteidigt – er ist der, der ins Haus einzudringen versucht, um die Pioniere zu retten. Doch im Haus sitzen die Kopfgeldjäger, die Kapitalisten, die mit dem Tod der Pioniere Geld verdienen. Dies ist das wahre Ende des Westens, die Verbrecher bzw. Kapitalisten dringen ins Haus (als Symbol des Staates) ein, unterdrücken die Einheimischen und vernichten jeden Widerstand der ursprünglichen Bewohner, den Silence ist ein Pionierkind, der Sohn eines Hausbewohners. In diesen zwei Szenen ist tritt der Bezug des Films zu Che Guevarra am stärksten hervor.

Corbucci verweigert das Happy End nicht nur aus ästhetischen Gründen, sondern weil er damit ein gesellschaftspolitisches Statement abgeben wollte. Es existiert noch eine alternative Endfassung, in der Burnett plötzlich aus dem Nichts auftaucht und Silence in klassischer Clint Eastwood-Manier mit den Schurken abrechnet. Kinski behauptete später in einem «Spiegel»-Interview, er habe Corbucci davon überzeugt, dass nur dieses Ende sinnvoll sei. Dabei handelt es sich aber ganz offensichtlich um die Übertreibung eines Schauspielers, der mehr zum Endprodukt beigetragen haben möchte, als nur durch die Gestaltung seiner Rolle. Das Happy End passt nicht in den Film und würde den roten Faden, der sich bis dahin durch ihn zieht, einfach kappen. Zudem ist dieses Ende nur eine konsequente Weiterentwicklung, die sich durch Corbuccis Westernschaffen zieht.

Django schaffte ein solches Happy End noch (weswegen es sinnlos gewesen wäre, es zu wiederholen), Navajo Joe (I/E 1966) rettet die Gesellschaft, opfert sich aber dafür: Er stirbt, nachdem er den Schurken getötet hat. In Die Grausamen (I crudeli, I/E 1966) gelingt es einem Familienpatriarchen nicht seine Ziele zu erreichen. Das Happy End wird hier zwar verweigert, aber ohne einen klar definierten bösen Antagonisten ist es lediglich ein tragisches Ende. Il grande silenzio scheint im Bezug auf das Ende mit diesen Filmen entwicklungstechnisch auf einer Linie zu liegen, die vom Happy End über das tragische Happy End und das bloss noch tragischen Ende zum «Bad End» führt, bei dem der Held nicht nur stirbt, sondern sein Opfer sinnlos bleibt. Nur so konnte Corbucci den Italowestern auf seine höchste Stufe führen, zum vollständigen Kontrastbild des naiven US-Western (den er durchaus liebte), und den absoluten Antifilm schaffen. Il grande silenzio ist wohl sein bedeutendster Film und zusammen mit dem im gleichen Jahr gedrehten Die gefürchteten Zwei (Il mercenario, I/E/ USA 1968) ein Kultfilm der 68er-Bewegung.

Die gefürchteten Zwei spielt auf andere Art und Weise mit den Genrekonventionen des Italo-Western, ist aber ebenso ein filmisches Meisterwerk. Nach diesen beiden Filmen gelang es Corbucci nicht mehr diese atmosphärische Dichte herzustellen, auch weil er das Genre ausgereizt hatte und nicht mehr in der Lage war, ihm etwas Neues hinzuzufügen. Trotzdem hat er mit diesen Filmen eine Kunstfertigkeit bewiesen, auch wenn er kein Auteur, wie Fellini, De Sica, Visconti, oder Antonioni war, oder jemand, dessen gesamtes Werk von überragender Qualität ausgezeichnet ist, wie das von Leone, oder Sollima. Es wäre vermessen ihn mit John Ford zu vergleichen, aber wie jener war Corbucci in der Lage filmische Meisterwerke zu schaffen trotz einigen Flops. Anders als bei Ford überwiegen letztere leider bei Corbucci. Aber Il grande silenzio bleibt.

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