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Wiederholungen in Serie

Text: Tereza Fischer / 17. Mai 2017

Mein erstes Pressescreening in Cannes, an der 70. Ausgabe des Filmfestivals, begann mit einem Buhruf. Ausgepfiffen wurde hier kein Film, sondern der Trailer des Festivals selbst, der vor jedem Film läuft. Zum Jubiläum erscheint auf den roten Treppenstufen, die in den nächtlichen Himmel führen, jeweils ein Name eines berühmten Regisseurs. Warum die Buhrufe? Weil der empörte Kritiker nicht einen Frauennamen entdecken konnte. Jeden Tag wechseln die Namen auf den Treppen, Frauen sind darunter dennoch kaum zu finden. Cannes bleibt weitgehend ein Männerclub. Ob sich neben Jane Campion dieses Jahr eine weitere Gewinnerin der Palme d’or finden wird, bleibt zu hoffen.

Für die cinephilen Kritiker gibt es durchaus noch mehr Gründe, vor dem eigentlichen Film zu pfeifen, wenn etwa das Logo von Amazon oder Netflix erscheint. Dass Cannes sich den neuen Entwicklungen im Filmbereich öffnet, zeigt die Auswahl von Filmen, die nicht mehr zwingend für eine erste Auswertung auf der Leinwand gemacht werden, sondern von einem Streaming-Giganten in erster Linie für den portablen Bildschirm produziert wurde, wie beispielsweise Todd Haynes’ Wonderstruck oder Okja von Bong Joon-ho, der seinen Film bei Netflix produzierte. Das Festival öffnet sich heuer auch dem Serienformat, das ebenfalls nicht für die Leinwand gedacht ist: allerdings, so darf man diesen Mut relativieren, handelt es sich um zwei an der Croisette altbekannte Filmemacher: Jane Campion mit Top of the Lake und David Lynch mit Twin Peaks. Man setzt also auf Altbewährtes.

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Auf Altbewährtes greift auch der Eröffnungsfilm Les fantômes d’Ismaël von Arnaud Desplechin zurück: Dédalus ist der Nachname der Hauptfigur, der weit in das Werk von Desplechin zurückreicht. Im seinem letzten Film Trois souvenirs de ma jeunesse war sein Vorname Paul, diesmal gibt es einen Ivan Dédalus. Damit steht dieser Film für Kontinuität, für das Wiederauftauchen der gleichen Namen. Auch Mathieu Amalric, der mal Dédalus, mal eine verwandte Figur spielt, sorgt wie Jean-Pierre Léaud und dessen wiederkehrende Figur des Antoine Doinel bei François Truffaut für eine fiktive Biografie. Hier spielt Amalric Ismaël Vuillard, einen Filmemacher, dessen junge Frau vor 21 Jahren, 8 Monaten und 6 Tagen, wie Ismaël genau weiss, nach kurzer Ehe verschwunden ist. An der Ungewissheit und der Leere, die Carlotta hinterlassen hat, leidet nicht nur er als Ehemann, sondern auch Carlottas alt gewordener Vater. Alpträume lassen beide nachts in Panik geraten, sie trösten einander seit Jahren. Unterdessen hat Ismaël eine neue Liebe gefunden, die etwas spröde Astrophysikerin Sylvia (Charlotte Gainsbourg). Als er mit ihr im Ferienhaus weilt und an seinem Film arbeitet, taucht die für ein Phantom doch quicklebendige Carlotta (Marion Cotillard) auf. Wer ist nun diese Frau, die das Leben früher sehr schwer nahm und nun Leichtigkeit gefunden zu haben scheint? Wie reagieren Ismaël, der Vater oder Sylvia auf ihre Rückkehr? Ismaël wird aus seinem obsessiven Schaffensprozess herausgerissen. Sein Film über Ivan Dédalus gerät ins Stocken. Etwa in der Hälfte von Les fantômes d’Ismaël wird deutlich, dass die Szenen zu Beginn, in denen die Geschichte des verschwundenen Ivan Dédalus erzählt wird, ein Film im Film sind. Sie sind Ismaëls Phantasie entsprungen. Wie viel von Ismaël steckt in der Figur Dédalus? Und wie viel von Desplechin in Ismaël? Der Film scheint um sich selbst zu kreisen, um die Möglichkeit, sich selbst zu erfinden.

Die Struktur des Films ist komplex – oder eher kompliziert. Immer wieder springt die Erzählung in die Vergangenheit, um die Liebesgeschichte von Sylvia und Ismaël zu beleuchten. Überdeutlich sind die Rückblenden mit Irismasken markiert. Der Film im Film dagegen soll zunächst als solcher unerkannt bleiben, obwohl das Emphatische der Kamera durchaus irritiert und den Status dieses Handlungsstrangs infrage stellt. In dieser Form äussert sich die manische Seite des Filmemachers, und das Wuchern der Ideen spiegelt sich in Schnipselsammlungen. Desplechin selbst wechselt ebenfalls oft die Perspektive und stellt die Emotionen der Figuren aus. Und doch berühren sie kaum, die Konstruktion seiner Figuren steht auf unsicherem Boden. So tanzt Carlotta zu Bob Dylans Zeilen «It ain’t me you’re looking for». Sowohl Carlotta als auch Sylvia versuchen, Ismaëls Projektionen durch eigene Erzählungen zu korrigieren. Alle kreisen dabei um sich selbst, erfinden sich selbst, verkörpern Lügen und tragen Masken. Der Film bietet ein facettenreiches Aufschlüsseln von Identitäten und Möglichkeiten, filmisch zu erzählen, wirkt jedoch etwas selbstvergessen und vermag trotz hervorragender Schauspielleistungen nicht zu überzeugen.

Während sich der Eröffnungsfilm in die Vergangenheit versenkt, hofft man auf zukunftsweisendere Filme.

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