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Ein Lied für Argyris

Darf man nach Distomo noch Bücher schreiben, noch Filme drehen? Der Zürcher Filmregisseur Stefan Haupt hat es getan. Ein Lied für Argyris hat er seinen Film über eines der entsetzlichsten Massaker genannt, die während des Zweiten Weltkrieges in Griechenland von der deutschen Besatzungsmacht verübt wurden.

Text: Stefan Volk / 01. Nov. 2006

«Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch», formulierte Theodor W. Adorno einst. Und als dann Paul Celan mit der «Todesfuge» gerade das tat und unfreiwillig als Gegenbeleg für Adornos These ins Feld geführt wurde, ging Adorno noch einen Schritt weiter: «Darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz liesse kein Gedicht mehr sich schreiben. Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen.»

«Darf ich weiterleben?» Wahrscheinlich haben sich das auch die Opfer des deutschen Massakers in Distomo gefragt. Es scheint eine seltsame Ironie der menschlichen Psyche zu sein, dass die überlebenden Opfer eines Verbrechens sich oft schuldiger fühlen als die Täter, die es begangen haben. Darf man nach Distomo noch Bücher schreiben, noch Filme drehen?

Der Zürcher Filmregisseur Stefan Haupt hat es getan. Ein Lied für Argyris hat er seinen Film über eines der entsetzlichsten Massaker genannt, die während des Zweiten Weltkrieges in Griechenland von der deutschen Besatzungsmacht verübt wurden. In den Mittelpunkt des Dokumentarfilms stellt er beispielhaft einen einzelnen Überlebenden, einen dreieinhalbjährigen Jungen mit dunklen Kulleraugen. Mittlerweile ist der dreieinhalbjährige Argyris sechsundsechzig Jahre alt und blickt auf ein bewegtes Leben zurück. Noch immer aber fühlt er sich als das Kind von damals. Eingekleidet in Lebenserfahrung, einen gewachsenen, erwachsenen Verstand, bleibt er doch im Herzen der kleine Junge auf dem Foto, das Ein Lied für Argyris leitmotivisch begleitet: ein Junge in schwarzen Kleidern mit traurigem Blick und aufeinandergepressten Lippen. Das Foto entstand in den Tagen nach dem Distomo-Massaker, bei dem Argyris’ Eltern und dreissig weitere seiner Familienangehörigen von den Deutschen auf barbarische Weise niedergemetzelt worden waren.

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Wie kann ausgerechnet ein Regisseur, der sechzehn Jahre nach Kriegsende in der beschaulichen Schweiz geboren wurde, einen Film über ein solch unermessliches Grauen drehen? Wie kann er auch nur ansatzweise nachempfinden, was er da erzählt? Darüber dürfte sich auch Stefan Haupt den Kopf zerbrochen haben. Argyris Sfountouris hatte er bei den Vorbereitungen zu einer Theateraufführung kennengelernt; auf der Suche nach einer griechischen Männerstimme. Erst später erfuhr er, dass Sfountouris die Buchvorlage zum Stück – «Askese» vom «Alexis Sorbas»-Dichter Nikos Kazantzakis – ins Deutsche übersetzt hatte. Noch später erfuhr er von Sfountouris’ Vergangenheit und jenen Geschehnissen vom 10. Juni 1944, dem Tag, an dem während einer knappen Stunde 218 Bewohner des Bauerndorfes Distomo bestialisch ermordet worden waren, darunter 47 Kinder und Säuglinge.

Stefan Haupt ist mit einer Griechin verheiratet. Im Frühjahr 2003 reist er mit seiner Familie nach Kreta in die Ferien. Auf einem Schnellboot geraten sie nachts in ein Unwetter, das Boot droht zu sinken. Plötzlich empfindet Haupt etwas, was er bislang nicht gekannt hat: Todesangst. Dieses existentielle Gefühl, notiert er heute, habe den Ausschlag gegeben, dass er sich dazu durchrang, den Film zu machen.

Indem er sich darin vorsichtig einem einzelnen, «ganz normalen» Menschen annähert, eröffnet er Möglichkeiten zur Identifikation. Dazu braucht es kein filmformales Brimborium. Weniges genügt. Ein Schwarzweissbild, das nur einen dunklen Fleck auf dem Holzboden zeigt. Die Tränen in den Augen des über sechzigjährigen Argyris. Die Worte seiner Schwester Kondylia, die ihm mit einem immer noch kindlichen Lächeln auf den Lippen erklärt, dass ihr Verstand stehen geblieben sei, seit jenem Tag, «als ich klein war, seit dem Massaker».

Mit angemessen schlichten, einfachen Mitteln folgt Haupts Film dem Werdegang Argyris’, der nach dem Tod seiner Eltern zunächst in Waisenhäusern aufwächst, ehe er über das Rote Kreuz die Chance erhält, in die Schweiz zu reisen, ins Kinderdorf Pestalozzi nach Trogen. Dort wächst er gemeinsam mit Waisenkindern aus ganz Europa auf. Er macht die Matura, studiert an der ETH in Zürich, unterrichtet als Physiklehrer, beginnt zu schreiben und griechische Bücher ins Deutsche zu übersetzen.

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Ein Lied für Argyris folgt dem Lebenslauf Sfountouris’, bettet seine persönliche Geschichte in die Historie Europas und insbesondere Griechenlands ein, vom Bürgerkrieg über die Militärjunta bis zur wiedergewonnenen Demokratie. Neben Argyris kommen Verwandte, Freunde zu Wort, Mitstreiter. Dazwischen sind Archivaufnahmen zu sehen und regelmässig auch melancholisch schöne Bilder von griechischen und Schweizer Landschaften, aufgenommen aus fahrenden Zügen oder Autos. Ein wenig Raum zum Atemholen.

Beharrlich aber kehren Argyris’ Gedanken und mit ihnen der Film zum Massaker von Distomo zurück. «Verarbeiten», wie ihm die Psychologen raten, will Argyris sein Trauma nicht. Er möchte lernen, damit zu leben. Zum fünfzigsten Jahrestag des Massakers veranstaltet er 1994 mit der Gemeinde Distomo eine «Tagung für den Frieden». Historiker, Journalisten, Hirnforscher, Widerstandskämpfer nehmen teil, aber keine deutschen Politiker.

Anders nämlich als Argyris mag das offizielle Deutschland möglichst nichts mehr mit der Vergangenheit zu tun haben. Es fürchtet sich vor Reparationszahlungen. Die deutschen Kriegsschulden gegenüber Griechenland waren 1953 im Londoner Abkommen bis zum Zeitpunkt eines endgültigen Friedensabkommens zurückgestellt worden. Nach Abschluss des «2+4-Vertrages» 1990 könnte Deutschland damit entschädigungspflichtig geworden sein.

Doch die Klagen, die Argyris und seine Schwestern einreichen, werden von allen deutschen Gerichten bis hin zum Bundesverfassungsgericht abgewiesen. Mittlerweile ist Argyris’ Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg anhängig. Eine Entscheidung steht noch aus. Bereits 1995 hatte die deutsche Botschaft in Athen auf Argyris’ Anfrage geantwortet, dass ein Anspruch auf Entschädigung nicht bestünde, da das Massaker als eine «Massnahme im Rahmen der Kriegsführung» zu werten sei.

Wie diese «Massnahme» ablief, schildern in Ein Lied für Argyris Historiker und Zeitzeugen: Nachdem eine SS-Division in einen Hinterhalt griechischer Partisanen geraten war, kehrte sie nach Distomo zurück, um dort «Sühnemassnahmen» (sic!) durchzuführen. Die Soldaten brachen wahllos in Häuser ein, erschossen Mütter, Väter, Alte, Kinder. Sie traten Säuglinge tot, vergewaltigten Frauen. Vor versammelter Familie trennten sie einer Tochter die Brust und dem Vater das Glied ab. Anschliessend zwangen sie dem Vater die Brust und der Tochter das Glied in den Mund, ehe sie beide erschossen. Greueltaten, die am Menschsein verzweifeln lassen.

Worte verfehlen zu beschreiben, was der kleine Argyris mit den Kulleraugen empfunden haben mag, als er zuerst seinen Vater und später die Mutter tot fand. Auch Ein Lied für Argyris kann das Unbegreifliche nicht begreiflich machen. Doch die sanfte, menschliche Stimme, in der dieses filmische Lied erklingt, erlaubt es nicht, wegzuhören. Das ist kein Film wie viele andere. Nicht etwa weil er so grossartig, meisterlich gedreht wäre, sondern weil er ganz zurücktritt hinter einem aussergewöhnlichen Menschen und seinem unerträglichen Schicksal.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2006 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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