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Le scaphandre et le papillon

Text: Gerhard Midding / 16. Jan. 2008

Delikater Lernprozess

«Ceci est un cadeau», dies ist ein Geschenk, schreibt der Vater zu dem Kindheitsfoto, das er seinem Sohn zum Geburtstag schickt. Eine altmodische Feierlichkeit klingt aus dem knappen Brief, die stille Hoffnung, der Adressat werde der kleinen Geste das adäquate Gewicht beimessen. Es ist nur ein Foto, aber der Sohn könnte sich kein schöneres, kein wehmütigeres Geschenk von seinem Vater wünschen.

Es ist vielleicht nicht verfehlt, bei der väterlichen Epistel an jenen Titel zu denken, den der Surrealist René Magritte einem seiner berühmtesten Gemälde gab: «Ceci n’est pas une pipe». Denn die Dinge des Lebens haben für den Sohn ihre Selbstverständlichkeit verloren. Er muss sich die Wirklichkeit neu erobern, ihren Wert neu bestimmen. Das Geburtstagskind ist über Vierzig, ein gestandener Mann, der aber auf die Hilflosigkeit eines Babys zurückgeworfen ist, das absoluter Fürsorge bedarf. In einem Alter, das normalerweise die Hälfte seines Lebenswegs markieren sollte, hat Jean-Dominique Bauby einen Schlaganfall erlitten, der den Rest seines Lebens auf ein hoffnungsloses Danach zu reduzieren scheint. Der klinische Ausdruck für seinen Zustand lautet «Locked-in-Syndrome». Sein Verstand ist klar und agil, aber er ist gefangen in einem Körper, der praktisch vollständig gelähmt ist. Nur die Lider eines linken Auges kann er noch bewegen. Sie sind sein einziges Mittel, um mit seiner Umwelt zu kommunizieren. Ein einmaliges Blinzeln bedeutet «Ja», ein zweimaliges «Nein».

Das ist eine Aufgabe, die allein sich vorzustellen jeden Zuschauer eingangs überfordert. Die Logopädin Henriette hält ihm ein Alphabet vor sein Auge, das nach der Häufigkeit angeordnet ist, mit der die Buchstaben gemeinhin benutzt werden. Unermesslich mühsam setzt sie Worte aus den Buchstaben zusammen, zu denen Jean-Dominique seine Zustimmung signalisiert hat. Ein einziger Satz, stellt man sich vor, könnte auf diese Weise eine ganze Stunde kosten. Aber der Film versteht es, seine Zuschauer auf diesen grausam entschleunigten Rhythmus einzustimmen. Später gewinnt es fast eine Selbstverständlichkeit, so über die Sprache zu verfügen. Mit Hilfe der geduldigen Stenografin Claude wird Jean-Dominique sogar ein ganzes Buch verfassen. Es ist die Vorlage dieses Films.

Gefangenschaft als Motiv

Baubys Chronik seines tragischen Schicksals, «Le scaphandre et le papillon», wurde 1997 zu einem weltweiten Bestseller. Das Buch galt lange Zeit als unverfilmbar. Aber gibt es für einen Regisseur, der den Blick neu erfinden will – seinen eigenen, den des Zuschauers, des Kinos insgesamt – eine bessere Vorlage als etwas, das sich der filmischen Adaption so entschieden verweigert? Den ersten Teil hat Julian Schnabel wie einen Experimentalfilm inszeniert; gerade so, wie auch Michael Powell an das Erzählkino herangegangen ist. An dessen A Matter of Life and Death muss man unweigerlich denken in jener Szene, in der die Lider von Jean-Dominiques rechtem Auge zusammengenäht werden müssen. Denn der Blick von Janusz Kaminskis Kamera hält sich streng an dessen Perspektive. Diese Subjektivierung hebt die vertraute Welt aus den Angeln. Lauter Stilfiguren, die sonst manieriert erscheinen – verkantete Einstellungen, Wackelkamera, die ostentative Verlagerung der Schärfe und Unschärfe –, sind hier triftig eingesetzt.

Vieles, was der gelernte Maler Schnabel in seiner dritten Regiearbeit ausprobiert, mag ihm womöglich gar nicht als ein Wagnis erschienen sein. Bei aller mittlerweile errungenen Meisterschaft im Umgang mit dem anderen Medium hat er sich die Unbefangenheit eines Amateurs bewahrt. Die Offensichtlichkeit von Metaphern geniert ihn nicht, angefangen beim Titel, der die Gebundenheit von Jean-Dominiques Körper und die Ungebundenheit seiner Phantasie akzentuiert. Sie sind für ihn ein gültiger Ausdruck der existenziellen Situation seines Helden. Immer wieder verweist er auf einen anderen berühmten Gefangenen der Literaturgeschichte, Dumas’ Grafen von Monte-Christo. Das Motiv der Gefangenschaft zieht sich ohnehin durch Schnabels filmisches Werk; entweder als Gleichnis (die Drogensucht in Basquiat) oder als repressive Lebensrealität (in Before Night Falls). Sie ist auch ein zentrales Sujet in den Drehbüchern seines Szenaristen Ronald Harwood, etwa in The Pianist, dessen Protagonist sich in einer klaustrophobisch engen Wohnung im Warschauer Ghetto verstecken muss. Für beide, Regisseur wie Autor, wird die Kunst zu einer Kraft des spirituellen Überlebens.

Aufgeladene Immanenz

Die Subjektivität des Blicks ist für Schnabel und Kaminski eine Selbstverpflichtung, aus der sie sich alsbald jedoch ungezwungen lösen, ohne dass dies wie ein Verrat wirkt. Sie tun es im Namen ihrer Hauptfigur. Rückblenden und Träume folgen ihrer inneren Bewegung zur Freiheit hin. Allerdings kehrt der Film regelmässig zur subjektiven Perspektive zurück, denn sie ist eine Schule des Sehens. Jean-Dominiques Blick ist nicht nur empfänglich für die exquisite Sinnlichkeit der Frauen, die ihn umgeben. Er ist geschärft. Wie durch eine Lupe betrachtet er die Verlegenheit seiner Umgebung, der Ärzte, Pflegerinnen und Besucher. Er schaut ihnen direkt in ihre Seele. Alles um ihn ist aufgeladene Immanenz. Die Waagschale seiner Sinnesempfindungen ist nach dem Schlaganfall neu austariert. Auf einmal fallen auch dem Zuschauer bezeichnende Charakterdetails auf: das Räuspern seines greisen Vaters, dessen Stimme stets belegt ist, weil er sich die eigene nicht eingestehen mag; die Achtlosigkeit, mit der seine ehemalige Lebensgefährtin Céline die Kuverts der Geburtstagsgrüsse aufreisst.

Diese sinnliche Empfänglichkeit stellt eine Verbindung her zu Jean-Dominiques früherem Leben. Er hat seine Vergangenheit mit der rauschhaften Erlebnisfähigkeit eines Dandys absolviert. Sein Geschäft war die Oberflächlichkeit – er war Chefredakteur des Hochglanzmagazins «Elle» –, aber auch die ist in Frankreich ja hintergründig. (Vor seinem erschütternden Erlebnisbericht hat Bauby übrigens eine Monographie über Raoul Davy geschrieben, den Produzent der ersten Erfolge von Brigitte Bardot, der in den sechziger Jahren Selbstmord beging. Sie schillert zwischen Glamour und tiefer Verzweiflung.)

Diskrete Symmetrie

Jean-Dominique muss sich nie für seine Vergangenheit rechtfertigen. Der Film fällt nie ein Urteil über die Unrast seines romantischen Lebens, die ihn dazu trieb, Céline, die Mutter seiner drei Kinder, wegen einer anderen Frau zu verlassen. Zugleich fordert er uns nie auf, ihn zu bemitleiden. Er lässt uns vielmehr emphatisch teilhaben an dem Prozess, den er durchmacht und der ihn von Verzweiflung und Sarkasmus zu einer robusten, lebensbejahenden Ironie führt. Einzig der Rhythmus des Drehbuchs, das auf eine schmerzliche, traurige Szene unweigerlich eine humorvolle folgen lässt, verrät, dass hinter dem Film ein amerikanischer Regisseur und eine US-Produzentin (Kathleen Kennedy, die langjährige Co-Produzentin Steven Spielbergs) stehen, die dem Publikum einen solchen Stoff nur mit einer gehörigen Portion Optimismus zumuten mögen.

Die Zerrissenheit des Vorher und des Danach in Jean-Dominiques Leben haben Schnabel und Harwood in einer diskreten Symmetrie strukturiert. In einer Rückblende rasiert er seinen Vater und kehrt dabei das traditionelle Verhältnis zwischen Vater und Sohn um. Später wischt ihm sei eigener Sohn den Speichel aus dem Gesicht, der unkontrolliert aus seinem geöffneten Mund rinnt; was dem Jungen nur unter Tränen gelingt. Als Jean-Dominique seinen Vater rasiert, ermahnt ihn dessen Pflegerin, den alten Mann nicht zu sehr zu ermüden. Wie könne er das tun, nur indem er ihn rasiert, fragt er. Später, an Bett oder Rollstuhl gefesselt, wird er erfahren, wie anstrengend das Gefühl des Glücks ist, wenn man in seinem Körper gefangen ist. Der Film erzählt dies nicht als Hochmut vor dem Fall, sondern als delikaten Lernprozess.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2008 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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