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El otro

Juans Leben in Buenos Aires verläuft nicht so, wie er sich das wohl einmal vorgestellt hat. Sein alter Vater ist pflegebedürftig, seine Frau schwanger. Seine Zukunft scheint unausweichlich vorbestimmt. Erst als er den Toten neben sich im Bus entdeckt, wird ihm bewusst, dass es auch anders sein könnte.

Text: Stefan Volk / 05. Mär. 2008

Der Andere, nach dem der argentinische Drehbuchautor und Regisseur Ariel Rotter seinen Film benannt hat, sitzt gleich am Anfang tot im Bus. Sein Platznachbar, der erfolgreiche Anwalt Juan Desouza, bemerkt das erst spät. Und, als hätte die Zeit, die er unbemerkt neben dem Toten verbrachte, ihn auf geheimnisvolle Weise mit ihm verbunden, entschliesst er sich, in dessen Identität zu schlüpfen. Er bricht seine Dienstreise ab, nimmt den Namen des Verstorbenen an, denkt sich einen neuen Beruf aus, sucht sich einen neuen Wohnort. Was wie ein Spiel beginnt, wird zur unverhofften Chance, plötzlich ein ganz neues Leben zu führen. Der Andere, von dem Rotter jetzt erzählt, ist nicht mehr tot. Er erwacht vielmehr in Juans Seele aus einem tiefen Schlummer und voller Sehnsucht nach seinem, dem anderen Leben. In diesem Anderen beginnt Juan sich neu kennenzulernen, indem er sich erst einmal fremd wird und auf die Suche nach sich selbst begibt.

«Wer bin ich?», stellt sich Juan die uralte Frage nach dem eigenen Ich, die Rotter in seinem zweiten Spielfilm nach Solo por hoy zur Frage nach der menschlichen Identität erweitert. Sind es nur die paar Daten, die Juan im Hotel angeben muss, um sich zu identifizieren: Name, Wohnort, Beruf, Ausweisnummer und Alter? Juan genügt das nicht. Schweigsam, ernst, mit tiefgründigem Blick, ist er nicht der Typ für postmoderne Rollenwechselspielchen. Aus tiefster, romantischer Seele sucht er nach einer “echten”, inneren Identität, einem Leben, das ihm Halt gibt und seinem Wesenskern entspricht. Julio Chávez verkörpert diesen stillen Melancholiker mit traurigem, sehnsuchtsvollem Blick und einer feinfühligen Körpersprache, für die es keiner Worte Bedarf. Mit seiner starken, zärtlichen Darstellung hat sich Chávez auf der letztjährigen Berlinale den «Silbernen Bären» als Bester Hauptdarsteller verdient.

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Juan ist Ende vierzig, in einem Alter also, in dem viele Männer wie er eine Zwischenbilanz ziehen, die, gemessen an den einstigen Jugendträumen, so ernüchternd ausfällt, dass sie in eine “Midlifecrisis” führt. Juans Leben in Buenos Aires verläuft nicht so, wie er sich das wohl einmal vorgestellt hat. Sein alter Vater ist pflegebedürftig, seine Frau schwanger. Seine Zukunft scheint unausweichlich vorbestimmt. Erst als er den Toten neben sich im Bus entdeckt, wird ihm bewusst, dass es auch anders sein könnte. Und ganz zögerlich, versuchsweise nimmt er den Namen des Fremden an und verwandelt sich in Doktor Manuel Salazar. Dann besucht er die Trauerfeier seines Alter ego und begegnet einer jungen Frau, die ihm bereits am Tag zuvor in einer Bar aufgefallen war. Der Ort, an dem er sie jetzt wieder trifft, ist bezeichnend für die Affäre, die sich zwischen den beiden entspinnt. Sie wissen, dass sie nicht von Dauer sein wird, und lieben sich in einer intensiven Leidenschaftlichkeit, die wie der gesamte Film nicht laut und polternd daherkommt, sondern sanft, ungeheuer intensiv und doch nie vollkommen erfüllend. Das Begehren wird hier nicht gestillt. Unterschwellig zehrend bleibt es vorhanden und treibt Juan weiter: von Identität zu Identität, dunkle Landstrassen entlang, in märchenhaft schöne Wälder, zu Bächen, in denen nackte Mädchen baden. Schwerelos träge durchwandelt Juan seine nach aussen gespiegelte Seelenlandschaft. Und dieses surreal ambivalente Gefühl eines sehnsuchtsvoll-leidenden Genusses bestimmt auch die filmische Atmosphäre.

In langen, starren Aufnahmen nähert sich Kameramann Marcelo Lavintman den Protagonisten an; nicht auf herkömmliche Weise, indem er zeigt, was sie tun, sondern indem er Bilder sucht und findet, die indirekt etwas über ihr Leben und Empfinden verraten. Statt die Gefühle seiner Figuren zu Close-ups aufzublähen, fängt er die emotionalen Spuren ein, die sie in ihrer Umgebung hinterlassen. Ins Innere seiner Charaktere dringt er vor, indem er ihr Äusseres immer wieder aus dem Blick verliert. Als Juan von zuhause aufbricht, zeigt eine lange Naheinstellung nur den Wecker auf seinem Nachttischchen. Man sieht nur kurz Juans Hände, die den Wecker abstellen, dann ertönt aus dem Off das Geräusch einer Schublade, und für einen Moment beginnen Wecker und Nachtschränkchen kaum merklich zu zittern. In diesem wunderbar einfachen Bild nimmt Rotter vorweg, wovon der Film erzählen wird: Der rituelle, alltägliche Ablauf in Juans Leben ist ins Wanken geraten. Der Wecker symbolisiert hier die ablaufende Zeit ebenso wie die Chance auf einen Neuanfang.

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Die Handlung als “Plot” gerät in einer derart poetischen Perspektive zwangsläufig in den Hintergrund. Statt auf Movement wie etwa Anthony Minghella in The Talented Mr. Ripley setzt Rotter auf Movens. Verborgenen Beweggründen folgt seine Dramaturgie, nicht rasanten Bewegungen. Deshalb schlägt Juan auch keine Haken und bleibt stattdessen auf der Suche nach einem klaren Weg, dem er folgen kann – wie der Landstrasse, die er eines Nachts im Licht der vorbeifahrenden Lastwagen entlanggeht, bis er von der Dunkelheit verschluckt wird. Mit Juan verliert hier auch der Zuschauer vorübergehend die Orientierung.

Am Ende aber schliesst sich der Kreis, als der vermeintliche Doktor Salazar zu einer alten Dame gerufen wird, die mit dem Tod ringt. Im langen Schlussbild, aus dem Juan abermals entschwindet, nähert sich der leise, gemächliche und traumhaft schön erzählte Film noch einmal dem Rätsel der menschlichen Seele an, wenn er andeutet, dass eine Reise nicht nur darin besteht, wegzufahren. Juan kehrt in sein altes Leben zurück, als der, der er war, und doch als ein Anderer.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2008 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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