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Die Frau mit den 5 Elefanten

Der Basler Filmemacher Vadim Jendreyko, der für Die Frau mit den 5 Elefanten am Filmfestival Visions du Réel gleich zwei Auszeichnungen erhielt, nähert sich in seinem Porträt behutsam Leben und Werk von Swetlana Geier an, die auch mit 86 Jahren noch jeden Tag an ihren Übersetzungen arbeitet.

Text: Lara Sascha Bleuler / 07. Nov. 2009

«Das finde ich so schön, wenn man etwas wortlos sagen kann, das braucht man nicht zu übersetzen.» Die alte Frau lächelt verschmitzt, für einen Moment wirkt ihr faltiges Gesicht wie verjüngt von jugendlicher Freude. Swetlana Geier weiss, wovon sie spricht; sie gilt als die grösste Übersetzerin russischer Literatur ins Deutsche. Für ihr Lebenswerk, die Neuübersetzungen von Dostojewskijs fünf grossen Romanen, den sogenannten fünf Elefanten, hat sie die letzten zwanzig Jahre ihres Schaffens investiert.

Nicht ohne Stolz türmt sie in ihrem Arbeitszimmer diese alle über tausend Seiten starken Meilensteine der Weltliteratur aufeinander, ihre kleine Hand kann dem Gewicht eines einzelnen Buches kaum standhalten. «Das übersetzt man nicht ungestraft», sagt sie, und vielsagend schimmern ihre klaren blauen Augen. Gute Texte bewegen sich, erklärt Geier, sie bleiben unerschöpflich. Auch wenn sie sie nach vielen Jahren Arbeit fast auswendig könne, bleibe die Sehnsucht, den innersten, wahrsten Kern der Wörter zu erfassen. In einem der Bilder, das sie für ihre Tätigkeit zu geben versucht, beschreibt Geier beim Bügeln einer alten Tischdecke das Übersetzen als Suche nach der inneren Ordnung der Fäden, die einer Stickerei ganz ähnlich zugrunde liege wie einem Text.

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Der Basler Filmemacher Vadim Jendreyko, der für Die Frau mit den 5 Elefanten am Filmfestival Visions du Réel gleich zwei Auszeichnungen erhielt, nähert sich in seinem Porträt behutsam Leben und Werk von Swetlana Geier an, die auch mit 86 Jahren noch jeden Tag an ihren Übersetzungen arbeitet. Er spürt ihrer leidenschaftlichen Liebe zur Sprache nach – und begleitet sie dabei auf eine Reise zurück an die Orte ihrer Kindheit. Voller Poesie die Bilder der Zugsreise von Deutschland in die Ukraine; stille Momente des Erinnerns. Swetlana Geier streichelt sanft den Arm ihrer Enkelin, die sie auf dieser Fahrt begleitet – das hübsche Mädchen ist wie ein Abbild der Grossmutter in vergangener Zeit. Die Reise in die Vergangenheit funktioniert als eine weitere Metapher für die Kunst des Übersetzens. Auch hier interessieren besonders die Verluste, das, was zurückgelassen werden muss, begraben, vergessen wird. So verliert sich beispielsweise die Suche nach dem geliebten Brunnen ihrer Kindheit im knöcheltiefen Schnee eines ukrainischen Dorfes.

Die angenehm raue Erzählstimme Jendreykos ergänzt Geiers eigene Schilderungen. Archivbilder erzählen fragmentarisch von den Wirren der Weltgeschichte, welche den Lebensweg der Übersetzerin entscheidend geprägt haben. Früh wird ihr Vater Opfer von stalinistischen Säuberungen; als er als gebrochener Mann aus dem Gefängnis zurückkehrt, pflegt ihn die noch kaum sechzehnjährige Swetlana ein halbes Jahr lang in der abgeschiedenen Datscha der Familie. Der Vater stirbt kurz darauf an den Folgen der Folter. Es ist dies eine der Erinnerungen, die Geiers Leben entscheidend geprägt haben müssen – deren wirkliches Gewicht und Nachhall der Film aber nur andeutungsweise zu erfassen vermag.

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1941 überfällt Hitler die Sowjetunion, im Herbst dieses Jahres wird Geiers beste Freundin – eine von 30’000 Juden – durch ein SS-Erschiessungskommando hingerichtet. Noch heute erinnert sie sich an den Widerhall der Maschinengewehrsalven, die in der ganzen Stadt zu hören waren. Geier selbst findet mit ihrer Mutter Arbeit in Diensten der Besatzer. So muss sie später vor der anrückenden Sowjet-Armee nach Deutschland fliehen, wo ihr Sprachtalent ihr schliesslich unverhoffte Möglichkeiten eröffnet. Zu diesem Abschnitt ihres Lebens befragt, wirkt die ansonsten enorm eloquente Swetlana Geier teilweise unbeholfen – oder unwillig, Auskunft zu geben. Die deutschen Offiziere, mit denen sie als Übersetzerin in der Ukraine in Berührung kam, habe sie damals schlicht nicht mit den Greueltaten der Besatzungsmacht in Verbindung gebracht, erklärt sie. Den im Privaten offenbar kultivierten, hochrangigen Wehrmachtsgeneral, bei dem ihre Mutter als Haushälterin tätig war, verehrt sie noch heute und nennt ihn dem Regime gegenüber «ritterlich loyal». Der Regisseur hakt nach – und kriegt die etwas patzige Auskunft: «Hitler hat doch mit Goethe, Schiller und Thomas Mann nichts gemeinsam!»

In solchen Momenten wirkt die alte Frau seltsam unnahbar und kalt. Es wächst der Eindruck, dass Geier in den Interviews durch ihre wohlüberlegten, nahezu druckfertigen Sätze eine rhetorische Schutzmauer aufbaut, die nie wirklich durchbrochen wird.

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So bleibt der Film auf Bild- und Tonebene zwar stets nahe an seiner Protagonistin, doch verhindert der durchwegs empathische Blick eine differenzierte Begegnung. Das Resultat ist mehr eine liebevolle Hommage als eine kritische Auseinandersetzung mit einer starken, aber widersprüchlichen Frau. Es bleibt beim Sehen ein Gefühl, ähnlich dem, welches Swetlana Geier ironischerweise als innersten Antrieb ihrer Übersetzungstätigkeit beschreibt: die Sehnsucht nach dem, was sich einem ewig entzieht, dem Ungesagten, dem unverfälschten Original.

In der literarischen Arbeit zumindest zeigt sich die Übersetzerin unerbittlich konsequent. Ein Bild bleibt unvergesslich: wie Geier und ihr ebenfalls hochbetagter Korrektor in leicht gebückter Haltung in ihrem Arbeitszimmer sitzen und sich, Detektiven gleich, Dostojewkijs Texten annähern – wie in Verneigung vor einem unergründlichen Geheimnis.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2009 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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