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Frozen River

Frozen River ist ein Erstlingsfilm, und das sieht man ihm an. Er ist manchmal holprig, unsauber in den Übergängen, ein wenig unlogisch gar, und gewissen Szenen haftet etwas Theatralisches an. Nichts desto trotz ist Frozen River absolut sehenswert: ein unabhängiger, starker, amerikanischer Frauenfilm.

Text: Irene Genhart / 07. Nov. 2009

Ab und zu findet sich auf der Liste der Oscar-Nominierten nebst den Usual Suspects auch ein neuer Name. 2009 hiess die Unbekannte Courtney Hunt. Nominiert war sie in der Kategorie «Best Writing, Screenplay Written Directly for the Screen», danebst zeichnet sie auch für die Regie verantwortlich. In der Kategorie «Best Performance by an Actress in a Leading Role» war Melissa Leo für denselben Film nominiert. Leo, geboren 1960, ist, anders als Courtney Hunt, keine Kino-Novizin. Sieht man sie in Frozen River, blitzt da und dort eine Erinnerung auf. Melissa Leo ist die Detektivin Kay Howard aus der TV-Serie Homicide und die Kleinstadt-Hure aus The Three Burials of Melquiades Estrada (2005). In Alejandro González Iñárritus 21 Grams (2003) spielt sie Benicio del Toros Frau und in Hide & Seek (2005) Robert DeNiros verstörte Nachbarin. Nicht schlecht, das alles. Aber eben nicht das glamouröse Karrierekrättchen einer Leading Lady, sondern die Arbeitsbilanz einer Schauspielerin, die unaufdringlich attraktiv und solide ihre Brötchen verdient. Auch da, wo sie die seelisch Verletzte spielt, ist ihr Spiel von einer burschikosen Selbstverständlichkeit gekennzeichnet: Sie ist der Typ Frau, der, mit beiden Beinen auf dem Boden, immer irgendwie überlebt.

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Das prädestiniert Melissa Leo geradezu für die Rolle der Ray Eddy in Frozen River. Die Protagonistin dieses knapp eine Million Dollar teuren US-Independent Filmes ist eine White Trash Mum, wie man sie in Amerika häufiger trifft; eine Frau, nicht mehr jung und gegerbt vom harten Leben, das sie als Mutter und Gattin in einem Trailer am Rande von Massena, NY, führt. «Welcome to the U.S.A.» ist am Filmanfang auf einer Strassentafel zu lesen. Und «U.S. Customs & Border Protection». Frozen River ist ein Grenz- beziehungsweise Grenzgängerfilm und spielt im Fast-Niemandsland der amerikanisch-kanadischen Grenze, aber auch zwischen Indianer-Reservat und Gut-Weiss-Amerika. Ray haust verloren im Irgendwo des Nirgendwo, was unvermittelt Erinnerungen an Allison Anders Gas Food Lodging (1993) weckt, wo eine andere Mutter, in New Mexico ebenfalls in einem Trailer hausend, sich und ihre beiden Teenager-Töchter über die Runde zu bringen versucht.

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Ray Ellis hat keine Töchter, sondern Söhne: den fünfzehnjährigen Troy und den zehn Jahre jüngeren Ricky. Und sie hat einen Ehemann. Der allerdings ist ein spielsüchtiger Hallodri und mit den gesamten Ersparnissen auf und davon. Ray findet einzig sein Auto – und zwar just in dem Moment, als die junge Mohawk Lila dieses zu ihrem machen will. Der Situation entsprechend fällt – nach einer hübsch lentamenten Verfolgungsjagd auf schnee- und eisverharschter Strasse ins waldige Indianer-Reservat – die erste Begegnung der beiden eher herb aus; Ray greift gar zur Pistole. Doch das Treffen markiert, wenn zwar nicht den Anfang einer Freundschaft, so doch den Beginn einer in Not geschlossenen Komplizenschaft. Denn Lila weiss ganz offensichtlich, wie man – illegal – zu Geld kommt. Und Geld braucht Ray dringend. Sie jobbt zwar teilzeitlich in einem 99-Penny-Shop. Doch ihr Lohn reicht kaum fürs Alltägliche, geschweige denn fürs bereits bestellte und anbezahlte Fertighäuschen. Zudem steht Weihnachten vor der Tür. Ray kann Troy die missliche Situation erklären – die in einem spröden Gespräch demonstrierte Solidarität zwischen Mutter und Sohn ist von filmgeschichtlicher Seltenheit –, für Ricky hingegen soll und muss Weihnachten stattfinden. Also kehrt Ray zu Lila zurück.

Die beiden fahren im Auto über den zugefrorenen Fluss nach Kanada und kehren mit zwei illegalen Einwanderern im Kofferraum wieder zurück. Und stecken ein paar Tausend Dollar dafür ein. Das ist nicht schlecht, aber nicht genug. Die Frauen spielen in der Folge ein heisses Katz und Maus-Spiel. Denn auch wenn die hinter einer Schneeverwehung wachende Polizei die weisse Fahrerin und ihre farbige Begleiterin das erste Mal ungehindert passieren lässt, das ungleiche Paar fällt auf. Bald schon klopft denn auch ein Cop an Rays Tür und warnt sie vor dem Umgang mit der alles andere als eine weisse Weste tragenden Lila.

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Eigentlich ist die Story von Frozen River ganz einfach: Eine unbescholtene Weisse rutscht, um sich und ihren Kindern das Überleben zu sichern, in die Kriminalität. Auch beinhaltet die Geschichte – vom Buben, der mit glänzenden Augen Weihnachten entgegenfiebert, über die junge Mohawk, der man das Kind wegnahm, den tragischen Schicksalen der illegalen Einwanderer bis zur Rassen und Grenzen überschreitenden Frauenfreundschaft – etliche Rührstück-Fallen. Doch Hunt verwehrt sich jeglichen Kitsch und vermeidet – bis auf eine kleine Szene am Schluss – jede Tränendrüsendrückerei. Stattdessen rückt sie mit klarem Blick soziale Missstände auf die Leinwand: den latenten Rassismus, der den Umgang der weissen Polizisten mit den Mohawks prägt, oder den Sexismus, der sich darin äussert, dass Rays Chef die jüngere und sexy auftretende Angestellte der zuverlässigeren, aber älteren Ray vorzieht. Aber auch die Native Americans werden von der üblichen filmischen Opferrolle befreit gezeigt und agieren als mündige Bürger, welche gewisse Dinge sehr wohl zu ihren Gunsten zu arrangieren wissen.

Frozen River ist ein Erstlingsfilm, und das sieht man ihm an. Er ist manchmal holprig, unsauber in den Übergängen, ein wenig unlogisch gar, und gewissen Szenen haftet etwas Theatralisches an. Nichts desto trotz ist Frozen River absolut sehenswert: ein unabhängiger, starker, amerikanischer Frauenfilm – der zwar keinen Oscar, aber wohlverdient etliche Kritikerpreise sowie den Jury Preis von Sundance einheimste.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2009 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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