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Gigante

Gigante zeichnet sich durch eine schöne Gelassenheit aus, sein Humor ist einer der lakonischen Art. Den Zuschauer lässt er eher schmunzeln als laut loslachen. So wortkarg wie sein Protagonist kommt die Geschichte, lakonisch erzählt, mit 84 Minuten Laufzeit aus.

Text: Frank Arnold / 07. Nov. 2009

Zögernd nähert sich der Mann der Frau, die er bisher nur aus der Ferne verehrt hat. «Julia?!» – «Hallo.» So könnte eine Liebesgeschichte beginnen. In Gigante steht diese Szene am Ende. Der Film aus Uruguay erzählt davon, was dem vorausgeht, was ein Mann alles macht, bevor er es endlich wagt, die Angebetete anzusprechen.

Ein Gigant ist Jara nur, was seine körperliche Erscheinung betrifft: der massige Mittdreissiger trainiert zu Hause seine Muskeln (was ihm im Verlauf der Geschichte zugute kommt), ist aber ansonsten ein stiller Mann. He Was a Quiet Man lautete im letzten Jahr der Titel eines Films, dessen Protagonist eine latente Wut in sich spürte, die irgendwann ausbrach. Könnte das auch auf Jara zutreffen? Er scheint ein Durchschnittstyp zu sein, einer, der zu Hause vor dem Fernseher auf der Couch einschläft und allzeit Heavy-Metal-Musik hört. Sein Zweitjob ist der als Türsteher in einer Disko, sein Hauptjob besteht darin, des Nachts in einem Supermarkt auf den Monitoren in seinem Kabuff die Angestellten zu überwachen.

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Er ist vielleicht nicht das Auge Gottes, aber während sich seine Kollegen damit begnügen, die Zoom-Funktion der Überwachungskameras dazu zu nutzen, die körperlichen Reize der weiblichen Mitarbeiter voyeuristisch nah heranzurücken, spielt Jara gelegentlich schon Mal Gott. Er hat die Macht, die Angestellten zur Rede zu stellen, wenn sie etwas mitgehen lassen, und sie zu melden – oder das bleiben zu lassen. Wenn wir ihn zum ersten Mal dabei sehen, wie er es registriert, als eine der Putzfrauen einen Artikel aus dem Regal unter ihren Putzsachen verschwinden lässt, er aber nichts unternimmt, dann denken wir noch, es ist sein Phlegma, das ihn lieber weiter an der Lösung des Kreuzworträtsels arbeiten lässt als seinen “Pflichten” nachzukommen. Beim nächsten Mal allerdings stellt er diese Angestellte zur Rede – mit den Worten «Reis oder Polenta wäre ja o.k., aber so etwas nicht.» Ein gütiger Gott also.

Aber Jaras Eingreifen geht noch weiter. Über die offensichtlich neue, junge Putzfrau, die bei ihrer Tätigkeit rücklings in einen Turm mit Haushaltsrollen gestolpert ist und diesen zum Einsturz gebracht hat, muss er erst noch lachen, doch als er dann sieht, wie der hinzukommende Chef heftig mit den Armen gestikuliert und offenbar aus der Mücke einen Elefanten macht, greift Jara ein. Kurzentschlossen weist er die Frau an der Durchsage an, dem Chef mitzuteilen, dass er in der Packabteilung benötigt würde. Wir wissen nicht, ob Jara das auch schon für andere gemacht hat, ob es die Hilflosigkeit der Putzfrau war, die ihn rührte, oder ob er in diesem Moment sogleich mehr für sie empfindet.

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Auf jeden Fall ändert sich ab diesem Augenblick Jaras Leben. Fortan wird er die junge Frau (von der er erst später in Erfahrung bringt, dass sie Julia heisst) geradezu obsessiv beobachten, im Betrieb, wo die Überwachungskameras sie jederzeit auf seinen Monitor zaubern, und nach Feierabend, wo er ihr selber folgen muss.

Solche Liebesobsessionen, oft verbunden mit (Er-)Rettungsphantasien, sind dem Kinogänger nicht unbekannt, man erinnert sich an Terence Stamp (der Samantha Eggar kurzerhand entführte und einsperrte) in William Wylers John-Fowles-Verfilmung The Collector oder an Robert De Niro (und seine verquere Sicht auf Cybill Shepherd ebenso wie auf Jodie Foster, die schliesslich in einem Amoklauf endete) in Taxi Driver. Der Moment, in dem der Stalker begreift, dass das, was er sich über seine Traumfrau und deren Liebe zu ihm zurechtgelegt hat, reine Phantasie ist, macht ihn gefährlich: gegen wen wird er seine Aggressionen richten: gegen das Objekt der Begierde, das schlagartig seinen Heiligenschein eingebüsst hat, gegen vermeintliche Konkurrenten – oder gegen sich selber?

Gigante ist ein Film über das Beobachten. Das wirft den Zuschauer auf sich selber zurück, weil er sich in seiner eigenen Kinobetätigung ertappt fühlt. Der Film bringt das in einigen Szenen direkt zur Sprache: Jara vor der Auslage eines Fernsehgeschäftes, in dem die Monitorwand überall dasselbe Bild zeigt, den Passanten vor dem Laden, also ihn – der professionelle Beobachter wird selber zum Objekt der Beobachtung. Oder wenn Julia, von ihm auf dem Monitor betrachtet, den Blick zur Kamera hebt und Jara erschreckt abschaltet – als könne sie ihn ebenfalls sehen. Diesen Moment variiert der Film später auf verspielte Art: als Julia nach dem Einkauf in einem Laden an der Kasse steht und auf den Monitor schaut, der dort auf dem Tresen steht, erblickt sie Jara, der sich selber gerade vom Blick der Überwachungskamera ertappt fühlt und einen entsprechend verdutzten Gesichtsausdruck macht.

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Die Selbstreflexion des Zuschauers als Beobachtender wird aber nicht nur in diesen Momenten akzentuiert, sie ist vielmehr in jedem Augenblick des Films evident. Und zwar deshalb, weil Regisseur Adrián Biniez gigante fast gänzlich in starren Totalen gedreht hat. Die damit einhergehende Strenge unterläuft Gigante allerdings durch die komischen Momente, die sich vor der Kamera abspielen. Oft erwächst die Komik aus dem unbeholfenen Verhalten, das Jara an den Tag legt, wenn er Julia auf der Strasse folgt, wo er sich eben nicht auf den anonymen Blick am Arbeitsplatz zurückziehen kann, den ihm dort die Überwachungskameras gewähren. So folgt er Julia in ein Kino (wo er sie zunächst im Film mit dem Titel Salto al amor wähnt, dann aber feststellen muss, dass sie sich für Mutant entschieden hat – den Fehler hätte aber vermutlich jeder von uns gemacht) und wechselt seinen Platz, nachdem er sie im dunklen Kinosaal erblickt hat. Um ihr näher zu sein, setzt er sich neben einen anderen Mann, was in dem ziemlich leeren Kino recht zweideutig aussieht. Trotzdem gerät Jara nie in Gefahr, zu einer lächerlichen Figur zu werden, denn der Zuschauer ahnt, dass er ein gutmütiger und liebenswerter Mensch ist, auch wenn er die Beweise schuldig bleibt. Aber gerade diese Unsicherheit macht uns aufmerksam für die kleinsten Details, aus denen wir vielleicht etwas ablesen können. Wir verstehen seine Eifersucht, wenn er sieht, dass Julia einem Kollegen (der aufdringlich den Arm um ihre Schultern legt) in die Lagerräume folgt, und wir bewundern ihn, wenn er den Rivalen, mit dem sich Julia zu einem Blind Date getroffen hat, vor drei Strassenräubern bewahrt.

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Gigante zeichnet sich durch eine schöne Gelassenheit aus, sein Humor ist einer der lakonischen Art. Den Zuschauer lässt er eher schmunzeln als laut loslachen. So wortkarg wie sein Protagonist kommt die Geschichte, lakonisch erzählt, mit 84 Minuten Laufzeit aus.

Die scheinbare Gleichförmigkeit von Jaras Alltags – mit dem Starren auf die Monitore im Beruf, mit dem hartnäckigen und leidenschaftlichen Lösen von Kreuzworträtseln, mit dem Playstation-Spiel, zusammen mit seinem kleinen Neffen, mit der Vorliebe für Heavy-Metal-Musik (die sich auch in seinen T-Shirts ausdrückt) – mag auf den ersten Blick als Selbstbescheidung erscheinen, aber man kann sie auch lesen als Wesenszüge eines Mannes, der in sich selber ruht. So findet die Ruhe des Films eine Entsprechung in ihrer Hauptfigur.

Bei der diesjährigen Berlinale wurde Gigante gleich dreifach ausgezeichnet: mit dem Silbernen Bären, dem Bären für das beste Erstlingswerk und dem Alfred-Bauer-Preis. Den Preis für das Erstlingswerk hat zumindest der deutsche Verleih in seiner Werbung unterschlagen – weil der Zuschauer von einem Erstlingsfilm nicht so viel erwarte, hiess es auf Nachfrage. Da sollten die Zuschauer den Verleih Lügen strafen, denn es ist nicht zuletzt die Stilsicherheit, mit der der Film des vierunddreissigjährigen Adrián Biniez verblüfft.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2009 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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