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Mary and Max

Selten schaffen unabhängige Animationsfilmer den Sprung vom Einzelkämpfer zum Regisseur eines hoch arbeitsteiligen Langfilms mit solcher Bravour wie der Australier Adam Elliot, der spätestens seit dem Oscar für seinen vierten Kurzfilm Harvie Krumpet in der Animationsszene ein Begriff ist.

Text: Oswald Iten / 07. Nov. 2009

Selten schaffen unabhängige Animationsfilmer den Sprung vom Einzelkämpfer zum Regisseur eines hoch arbeitsteiligen Langfilms mit solcher Bravour wie der Australier Adam Elliot, der spätestens seit dem Oscar für seinen vierten Kurzfilm Harvie Krumpet in der Animationsszene ein Begriff ist. Bereits vor diesem Erfolg haben seine humorvollen Puppentrick-Kurzbiographien über Verwandte mit neurologisch-psychologischer Störung für Aufsehen gesorgt.

Nachdem in diesen Kurzfilmen jeweils eine einzelgängerische Figur im Zentrum stand, lebt Mary and Max von der Beziehung zwischen zwei sehr unterschiedlichen, in ihrer Einsamkeit aber verbundenen Menschen, denen der ganz normale Alltag manchmal äusserst verwirrend vorkommt. Mit diesem emotional komplexen Langfilm bleibt sich Elliot stilistisch und thematisch treu, übertrifft seine Kurzfilme jedoch formal und inhaltlich bei weitem. Die lose auf dem Leben von Elliots langjährigem Brieffreund basierende Geschichte über das Akzeptieren der eigenen Andersartigkeit ist an Skurrilität und schwarzem Humor kaum zu überbieten, stimmt aber dennoch hoffnungsvoll.

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Die achtjährige Mary Daisy Dinkle lebt in einem Vorort von Melbourne. Angelehnt an Adam Elliots eigene Kindheitserinnerungen an die siebziger Jahre in Australien gibt es in ihrer Welt, abgesehen von ein paar knallroten Details, ausschliesslich Brauntöne. Weil die in sich gekehrten Eltern den Wissensdurst ihrer einsamen Tochter nicht zu löschen vermögen, entschliesst sie sich eines Tages, einem ihr unbekannten Amerikaner namens Max Jerry Horovitz zu schreiben.

Dieser übergewichtige Vierundvierzigjährige teilt zufälligerweise ihre Liebe zu Schokolade und zur fiktiven Trickfilmserie «The Noblets». Seine Heimatstadt New York ist in strengem Grau gehalten, die roten Akzente fallen hier noch deutlicher auf. In diese Welt flattert Marys brauner Brief mit der Frage, ob die Kinder in Amerika aus Cola-Dosen kämen oder wie in Australien in Biergläsern gefunden würden. Max beschliesst, ihr nach bestem Wissen und Gewissen zu antworten.

Nachdem sein erster Antwortbrief nur knapp der Zensur von Marys Sherry-süchtiger Mutter entgeht, lässt sich das Mädchen die Post fortan zu ihrem agoraphoben, kriegsversehrten Nachbarn schicken, dessen Briefkasten sie ohnehin jeden Morgen leeren muss.

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Auf Marys Klage über ihr kotfarbenes Muttermal auf der Stirn, das ihr den Spott der Schulkameraden einträgt, antwortet ihr der rationale Max, sie solle allen erzählen, es handle sich um einen angeborenen Schokoladefleck, der sie im Jenseits dazu berechtige, Gottes gesamten Schokoladevorrat zu verwalten. Dies sei zwar eine Lüge, doch sei sie durch die Umstände gerechtfertigt. Max würde die himmlische Schokoladeverwaltung dereinst nur zu gern selbst übernehmen, doch als jüdischer Atheist, der seine Kippah nur trägt, um sein Gehirn warm zu halten, sei dies natürlich nicht möglich.

Mit diesem pragmatischen Rat gewinnt Max Marys Vertrauen vollends, und der Grundstein für eine anhaltende Brieffreundschaft ist gelegt. Durch das gegenseitige Geben und Nehmen entwickeln die beiden Aussenseiter ein Zusammengehörigkeitsgefühl über zwei Kontinente hinweg, das den Zuschauer für beide Figuren gleichermassen einnimmt.

Erst spät erfährt Max, dass er unter dem unheilbaren Asperger-Syndrom leidet. Spätestens jetzt wird klar, warum ihn gewisse Fragen in solchen Stress versetzen, dass er sich mit zitternder Unterlippe auf einen Stuhl in der Ecke stellt und sich seine Augen unabhängig voneinander zu bewegen beginnen. Zwar ist Max stolz darauf, ein «Aspie» zu sein, doch stört es ihn, dass seine Eigenart als Behinderung angeschaut wird, wo doch die Menschen um ihn herum so irrational und schwierig sind, aber trotzdem für “normal” gelten.

Der Film hinterleuchtet nicht nur humorvoll die gängigen Klischees, mit der diese Form des Autismus behaftet ist, sondern konfrontiert den Zuschauer auch immer wieder schmerzhaft damit, dass die eigenen Verhaltensweisen unter psychiatrischer Betrachtung schnell als pathologisch abgestempelt werden könnten.

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Obwohl die heranwachsende Mary dank dem neugewonnenen Selbstvertrauen über die Jahre ein normales Leben aufbauen kann, bestimmt die Brieffreundschaft zu Max ihr ganzes Tun. Mit unglaublichem Elan forscht sie nach einer Therapie für Menschen mit Asperger-Syndrom. Als sie schliesslich eine Fallstudie über Max publiziert, reagiert dieser so negativ, dass sie ihr Buch einstampfen und sich völlig gehen lässt.

Elliot findet für solch einschneidende Momente erfrischend unverbrauchte Bilder. Beispielsweise kündigt Max die Freundschaft auf, indem er den Buchstaben «M» seiner Schreibmaschine ausreisst und kommentarlos an Mary schickt. Im Kontext des Films könnte es nicht schlimmer sein, wenn er ihr einen abgetrennten Finger schicken würde.

Trotz der spürbaren Detailverliebtheit der Macher sorgt ein ausgesprochen fokussiertes Drehbuch für einen präzisen Erzählrhythmus. Zu den Stärken des Films gehört es, dass Elliot grosse Leerstellen in den beiden Biographien zulässt. Nur so gelingt es ihm, achtzehn Jahre stimmig in 92 Minuten zu packen. Zwischen einzelnen Briefen können Monate oder Jahre vergehen, und es ist den Protagonisten regelrecht anzusehen, dass das Warten nicht spurlos an ihnen vorbeigegangen ist, während das Leben anderweitig sehr wohl seinen Lauf genommen hat.

Wie bei Elliots früheren Filmen wird der Erzählfluss massgeblich von Off-Stimmen bestimmt. Während Geoffrey Rushs künstliche Redepausen als Erzähler von Harvie Krumpet bisweilen irritiert haben, trifft der australische Komiker Barry Humphries hier den Ton der Erzählung perfekt. Im Gegensatz zu den steifen Plastilinmännchen der Kurzfilme, die in statischen Bildkompositionen häufig nur blinzelnd den gesprochenen Text illustrierten, agieren die Figuren in Mary and Max innerhalb einer kompletten filmischen Welt, ohne dauernd in die Kamera zu blicken.

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Für die Stimmen der Protagonisten wurden zwar wie in den meisten Hollywood-Produktionen grosse Namen verpflichtet, jedoch verschwinden diese ausnahmsweise wohltuend hinter den Figuren. Besonders Philip Seymour Hoffman stellt einmal mehr seine Wandlungsfähigkeit als Sprecher unter Beweis, obwohl er einzig Briefe aus dem Off vorlesen darf. Nachdem er seinem markanten Bass bereits als nölender Schriftsteller in Capote überraschend neue Facetten entlockt hat, findet er für den Einzelgänger Max eine Sprechweise, die dessen ganze Lebenseinstellung mitschwingen lässt.

So erhalten die beiden sorgfältig ausgearbeiteten Figuren eine Tiefe, wie man sie im Trickfilm noch selten gesehen hat. Adam Elliot schafft das Kunststück, uns zwei äusserlich unattraktive Menschen näherzubringen, die trotz aller Überzeichnung und Skurrilität menschlicher und realistischer wirken als viele von realen Schauspielern verkörperte Filmfiguren. Ergriffen lachen und weinen wir mit ihnen, manchmal beides gleichzeitig, etwa wenn sich Max darüber beklagt, dass er nicht weinen kann, worauf Mary ihm ein Glas mit Tränen schickt, die sie sich abgerungen hat, indem sie an eine Katze gedacht hat, die unter den Rasenmäher gekommen ist.

Besonders Elliots Affinität zu grossen musikalischen Gesten, pathetisch und augenzwinkernd zugleich, sorgt immer wieder für magische Kinomomente, die noch lange nachhallen. Kein Wunder durfte Mary and Max das diesjährige Sundance Film Festival eröffnen, verkörpert der Film doch alles, was das publikumstaugliche Independent-Kino ausmacht.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2009 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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