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Visions 01

Vision – aus dem Leben der Hildegard von Bingen

Eine historische Persönlichkeit, bei der nicht nur das exakte Geburtsdatum (im Jahr 1098) mit einem Fragezeichen zu versehen ist, lässt sich schnell für allerhand Weltanschauungen vereinnahmen. So gilt Hildegard von Bingen heute wahlweise als feministische Vorreiterin, Ahnherrin der Naturheilkunde oder Kronzeugin eines mystischen Spiritualismus.

Text: Stefan Volk / 09. Dez. 2009

Eine historische Persönlichkeit, bei der nicht nur das exakte Geburtsdatum (im Jahr 1098) mit einem Fragezeichen zu versehen ist, lässt sich schnell für allerhand Weltanschauungen vereinnahmen. So gilt Hildegard von Bingen heute wahlweise als feministische Vorreiterin, Ahnherrin der Naturheilkunde oder Kronzeugin eines mystischen Spiritualismus. In den frauenbewegten siebziger Jahren, in denen sich Margarethe von Trotta zum ersten Mal mit dem Gedanken trug, das Leben der von der katholischen Kirche offiziell nie heilig gesprochenen Heiligen zu verfilmen, hätte sich die deutsche Regisseurin vielleicht noch einer dieser einseitigen Interpretationen angeschlossen. Gut dreissig Jahre später nähert sie sich der legendären Benediktineräbtissin nun weitgehend vorbehaltlos. Mit dem ideologischen Eifer bleibt leider jedoch auch die innige Anteilnahme grossenteils auf der Strecke.

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Dass Margarethe von Trotta in Hildegard von Bingen dennoch die Prophetin und Wegbereiterin eines Zeitenwandels sieht, deutet der knapp hundert Jahre vor ihrer Geburt angesiedelte Prolog an, in dem eine kleine Kirchgemeinde in der Nacht des Jahrtausendwechsels dem Weltuntergang entgegenzittert, bis ein kleines Mädchen am anderen Morgen die Kirchenpforten öffnet und das frühe Licht des neuen Millenniums in die Kapelle strömt. Im verfilmten Leben der Titelheldin schlägt sich Fortschrittlichkeit dann etwa darin nieder, dass sie sich gegen Selbstgeisselungen wendet, bei Krankheiten weniger auf die Macht der Gebete als auf die Heilkräfte der Natur baut und als Äbtissin nicht davor zurückschreckt, sich mit hochrangigen männlichen Klerikern anzulegen, um ihre Vorstellungen und Ziele durchzusetzen, gleichzeitig aber auch das nötige diplomatische Geschick beweist, um bei solchen Streitigkeiten meist mächtige Verbündete an ihrer Seite zu wissen.

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Über eine solche progressive Grundhaltung hinaus gelingt es von Trotta jedoch nicht, die “Vision”, von der der Titel spricht, kenntlich zu machen. Obwohl Barbara Sukowa in der Rolle der Hildegard einen Glücksgriff darstellt und sie ihre Figur durchaus charismatisch als einen widersprüchlichen, kantigen Charakter interpretiert, vermittelt der Film keine greifbare Vorstellung von dem, was die Protagonistin als Wissenschaftlerin, als Gläubige und als Mensch antreibt. Ohne eine eigenständige dramaturgische Dynamik zu entwickeln, hakt der Film die mal mehr, mal weniger fiktiven Stationen aus dem Leben der Hildegard von Bingen ab. Als junges Mädchen wird sie einem Kloster übergeben, wo sie von einer ebenfalls noch recht jungen Nonne erzogen wird, die ihr bald geliebte Ersatzmutter ist. Als Weggefährtin und Ersatzschwester begleitet sie eine Gleichaltrige, die Hildegard liebt, aber auch von Neid und Eifersucht geplagt wird. Anfangs auf die gemeinsame “Mutter”; später, nachdem Hildegard zur Äbtissin aufgestiegen ist, auf deren Lieblingelevin Richardis von Stade. Ein schwelender Konflikt, der jedoch nie richtig ausbricht. Ähnlich beiläufig hadert Hildegard mit ihren Visionen, von denen sie ihrem Vertrauten und späteren Schreiber Propst Volmar berichtet, den Heino Ferch mit genau zwei Gesichtern spielt: einem erstaunten und einem verschmitzt verständnisvollen.

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Nach ein paar innerkirchlichen Querelen werden Hildegards Visionen offiziell anerkannt, bringen ihr Ruhm und dem Kloster Reichtum. Daraus ergibt sich die erste grössere Auseinandersetzung, an deren Ende Hildegard schliesslich die Gründung eines eigenen Klosters durchsetzt. Die erste grosse Niederlage erleidet sie, als Richardis gegen Hildegards Willen zur Äbtissin eines eigenen Klosters ernannt wird. Doch auch das verpufft schnell zur reinen Episode in einem Film, der über pflichtschuldig inszenierte Wegmarken hinaus keine Perspektive oder gar Vision bietet. Trotz schöner mittelalterlicher Kostüme vermittelt der Film kein Gefühl für die historische Wirklichkeit, weil er – möglicherweise aus Budgetgründen – kaum einen Blick über den klösterlichen Tellerrand hinaus wagt. So erstarrt das Kloster zur Kulisse; umso mehr, als auch die Charaktere sich über die Jahre hinweg kaum entwickeln; weder psychologisch noch äusserlich. Einige, wie etwa Richardis, sehen immer gleich aus. Andere, wie Hildegard von Bingen, altern minimal. Wieder andere, wie Propst Volmar, tragen jahrzehntelang dieselbe Maske, um am Ende doch noch flugs zu ergrauen. Schwerer aber als solche handwerklichen Missgriffe wiegt der innere Stillstand der Figuren, die als blutleere Funktionsträger den Zuschauer von jeglicher Teilnahme ausschliessen.

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Es ist enttäuschend, wie wenig Margarethe von Trotta aus diesem eigentlich doch so schillernden Stoff herausholt. Selbst wenn die schon Totgeglaubte auf wundersame Weise wieder von ihrem Sterbebett aufsteht, fällt von Trotta nichts Besseres ein, als Heino Ferch einmal mehr spitzbübisch lächeln zu lassen. Vielleicht weil sie dem Wunder nicht traut, nimmt sie dem Aussergewöhnlichen die Kraft, ohne es aber grundsätzlich in Frage zu stellen. Unter einem ähnlichen Dilemma leidet von Trottas Umgang mit Hildegards Visionen. Ohne sich eine eigenständige, fiktionale Deutung zuzutrauen, lässt sie offen, ob die “Gesichte” nun Gottesbotschaften waren, Krankheitssymptome oder gar raffinierte Erfindungen, um sich auf diese Weise als Frau in einer Männerkirche Gehör zu verschaffen. Die Einladung zur Inszenierung prächtiger und geheimnisvoll surrealer Bilderwelten, die das sagenumwobene Geschehen ausspricht, schlägt von Trotta leichtfertig aus. Stattdessen begnügt sie sich mit ein paar lustlosen Lichteffekten. Auch das ist enttäuschend, passt aber zu diesem halbgaren und biederen Biopic.

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