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Welcome 08

Welcome

Lioret ist ein aufgeklärter Melodramatiker, der sich nicht scheut, das Politische ganz fest mit dem Privaten zu vermählen. Er kann es, weil er seinen Hauptfiguren auf gleicher Augenhöhe begegnet. Er nähert sich seinem kontroversen Sujet mit den rechtschaffenen Mitteln eines Charakterdramas, das auf der Legitimität individueller, privater Gründe für staatsbürgerliches Engagement beharrt.

Text: Gerhard Midding / 09. Dez. 2009

Eigentlich ist es nur noch ein Katzensprung zu Bilals Ziel. Tausende von Kilometern hat der junge Kurde unverzagt zurückgelegt, hat seine Heimat hinter sich gelassen, anfangs die Verfolgung und Folter durch die Türken erduldet und dann ganz Mitteleuropa unter harten, demütigenden Bedingungen durchquert. Verglichen damit sollte die letzte Etappe ein Kinderspiel sein. Aber seine Schicksalsgenossen lachen ihn aus, als er arglos erklärt, er wolle nach England und hoffe, schon morgen dort anzukommen.

Die Flüchtlinge, die zu Hunderten in Calais auf eine illegale Passage nach Dover warten, haben längst begriffen, dass ihre Hoffnungen gestundet sind. Sie sind der Willkür der passeurs, der Schieberbanden unterworfen, die sie nur gegen astronomisch hohe Prämien auf eine Fähre schmuggeln, und müssen die unerbittliche Achtsamkeit der Grenzbeamten gewärtigen. Die meisten von ihnen verharren schon seit Monaten in der unwirtlichen, verregneten Stadt, durch die ein kalter, feindseliger Wind weht. Aber Bilal ist fest entschlossen, nicht umsonst gab man ihm daheim den Kosenamen Bazda, der Läufer. Seine Sehnsucht ist einfach zu gross, als dass er aufgeben würde, auch wenn sein erster Versuch, in einem Lastwagen versteckt auf die Fähre zu gelangen, kläglich gescheitert ist und er interniert wird. Der Fluchtpunkt seiner Sehnsucht ist London, wo das Mädchen wohnt, das er liebt. Dort hoffte er, genug Geld zu verdienen, um seine Familie unterstützen zu können. Und vielleicht erfüllt sich ja sogar sein grosser Traum, dass ein Talentscout von Manchester United entdeckt, wie geschickt er mit dem Ball umgehen kann.

Aber er findet sich in einer Welt wieder, in der die Solidarität zu einem Delikt geworden ist. Auch der Schwimmlehrer Simon begegnet ihm zunächst abweisend, muss vielfache innere Widerstände überwinden, um sich zu einer Geste der Freundlichkeit durchzuringen. Es braucht eine Weile, bis er begreift, was für eine unerhörte Bitte der Halbwüchsige an ihn richtet, mit dem er sich nur in gebrochenem Englisch verständigen kann: Er will so schnell wie möglich von ihm Kraulen lernen, um den Kanal zu überwinden.

Welcome 03

Philippe Lioret eröffnet Welcome mit einer präzisen, dokumentarisch anmutenden Zeitangabe: Seine Geschichte um Sehnsucht und Entschlossenheit lässt er am 12. Februar 2008 beginnen. Aber er wählt für sie keinen pseudodokumentarischen Stil, der Betroffenheit durch eine fahrige Handkameraästhetik beglaubigen will, sondern legt den Film entschieden als Fiktion an. Laurent Daillands Kamera setzt der Klaustrophobie der Erzählsituation kühn die Freizügigkeit des Scope-Formats entgegen. Nicola Piovanis Partitur eröffnet einen weiten Resonanzraum: Bei der Einschiffung nach Dover mischen sich diskret ethnische Klänge in die Musik, die an Bilals verlorene Heimat gemahnen, sodann findet sie zu einem epischen Atem, der mit einem intimen Klavierthema kontrastiert, das alle Konflikte auf eine wehmütige Unruhe zurückführt, die darum ringt, die persönliche und soziale Isolation zu überwinden. Regelmässig kadriert Lioret die Einstellungen als Tableaus, in denen der Blick durch Türrahmen und Flure unterstreicht, welche Widerstände und Schwellen das Verlangen nach Gemeinschaft und Liebe überwinden muss.

Die Lebensbedingungen der Immigranten, die seit der Schliessung des Lagers von Sangatte im Dezember 2002 nun in Calais ihr Dasein in der Illegalität fristen, hat Lioret allerdings akribisch recherchiert. Einer seiner Co-Autoren, Olivier Adam, hat 2007 die in Frankreich vielbeachtete Sozialstudie «À l’abri du rien» veröffentlicht, die ein Schlaglicht auf die Verharschung der Verhältnisse wirft. Die Methoden der passeurs und Grenzbeamten, die mit Sonden in den Lastwagen überprüfen, ob der CO2-Ausstoss versteckte Passagiere verrät, sind mit bezwingender Realitätsnähe geschildert. Alles, was er als Fiktion erzählt, erklärte Lioret zum Start des Films in Frankreich, habe er in Calais mit eigenen Augen gesehen. Es klingt beinahe so, als habe er sich gewappnet gegen jedwede absehbare Anfechtung und die Wirklichkeit vorsichtshalber schon einmal auf seine Seite gebracht.

Welcome 02

Tatsächlich löste Welcome in Frankreich heftige Debatten aus, an deren polemischem Tonfall der sonst bedacht, diskret wirkende Regisseur nicht unschuldig war. Ein Interview, das er der Zeitung «La Voix du Nord» gab, zog die Empörung Eric Bessons auf sich, des Ministers für Einwanderung und Nationale Identität. Mit der Äusserung «Ich habe das Gefühl, die Geschichte eines Mannes erzählt zu haben, der 1943 einen Juden in seinem Keller versteckt» habe Lioret die Grenze des Anstands überschritten: Es sei unerträglich, die Polizisten der Fünften Republik mit denen des Vichy-Regimes gleichzusetzen. (Tatsächlich weckt eine Razzia in den frühen Morgenstunden unweigerlich derlei Assoziationen; im Gegenzug belegt Dominique Rabourdins bemerkenswerte Darstellung eines gewissenhaften Beamten, wie vielschichtig Lioret die Konflikte anlegt.) Zwar hatte sich der frisch gebackene Minister im Januar selbst von den Zuständen in der Hafenstadt überzeugt und sie als unwürdig beklagt. Nun jedoch verteidigte er seine Migrationspolitik vehement gegen Liorets Vorwürfe und wandte ein, die Flüchtlinge fielen eigentlich ohnehin nicht in seinen Zuständigkeitsbereich, da sie ja nicht um Asyl in Frankreich ersuchten.

Eine Woche nach seinem Start wurde Liorets Film dem Parlament vorgeführt. Für die Linke gilt er als überzeugendes Argument gegen den Gesetzesartikel L. 622, der Hilfeleistungen gegenüber den illegalen Migranten als délit de solidarité kriminalisiert. War der Artikel ursprünglich gegen die Machenschaften der Schieber gerichtet, sehen sich nun auch freiwillige Helfer von Haftstrafen bis zu fünf Jahren und Geldbussen bis 30 000 € bedroht. Einige Wochen zuvor war eine unbescholtene Bürgerin verhaftet worden, weil sie Migranten erlaubt hatte, die Batterien ihrer Mobiltelefone bei sich aufzuladen. Liorets Film spiegelt ein Klima wieder, in dem Hilfsbereitschaft und Zivilcourage anrüchig geworden sind. Mitunter gerät ihm dabei sein Faible für bittere Ironien in die Quere: So verwehrt ein aus Schwarzafrika stammender Sicherheitsbeamter zwei Migranten den Zutritt zu einem Supermarkt, weil sich die Kunden belästigt fühlen; die Entdeckung, dass auf dem Fussabtreter vor der Wohnung eines fremdenfeindlichen Nachbarn «Welcome» steht, gehört zu den allerdings wenigen Momenten des Films, denen es an Subtilität gebricht. Denn eigentlich hat Lioret, der schon in seinem Regiedebüt Tombés du ciel das Verhältnis von Nationalität und Identität thematisierte, einen umsichtig unpolemischen Film gedreht.

Welcome 04

Lioret ist ein aufgeklärter Melodramatiker, der sich nicht scheut, das Politische ganz fest mit dem Privaten zu vermählen. Er kann es, weil er seinen Hauptfiguren auf gleicher Augenhöhe begegnet. Er nähert sich seinem kontroversen Sujet mit den rechtschaffenen Mitteln eines Charakterdramas, das auf der Legitimität individueller, privater Gründe für staatsbürgerliches Engagement beharrt. Er ist ein grosszügiger Erzähler, für den die Motive nicht edel sein müssen, um der Verteidigung würdig zu sein, sondern ambivalent bleiben dürfen. Vincent Lindon hält es in der Schwebe, ob Simon nur seiner Ex-Frau Marion imponieren will, als er sich des Jungen annimmt. Sie arbeitet in einer Hilfsorganisation und hat ihn wohl auch deshalb verlassen, weil sie seinen Egoismus und seine Trägheit nicht mehr ertragen hat. Einst hatte auch er grosse Ziele, hat als Schwimmer eine Goldmedaille errungen. Bilals Unbeugsamkeit berührt ihn, auch er fühlt sich entwurzelt und kennt den Schmerz, von der geliebten Frau getrennt zu sein. Er erkennt eine Vaterschaft an, mit allen Konsequenzen, die seine bürgerliche Existenz bedrohen könnten. Die Hoffnung ist nicht gegenstandslos, dass die Begegnung mit Bilal ihm die Augen geöffnet hat für den Kleinmut, mit dem die Festung Europa ihre Tore verschliesst für die Benachteiligten und Verfolgten.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2009 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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