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Man on Wire

Text: Michael Pekler / 15. Apr. 2009

Mit dem ersten Schritt sei die ganze Anspannung schlagartig von ihm gefallen, erzählt der Mann, der mit seinen knapp sechzig Jahren noch immer nicht still sitzen und sein Leben ruhig in eine Kamera schildern kann. Es war der 7. August 1974, und die Nacht über New York war kühl und klar. Man konnte die Sterne am Himmel leuchten sehen, und vom Dach des World Trade Centers aus hatte man einen phantastischen Blick über die Stadt. Dann kam der Morgen, und Philippe Petit setzte endlich den grössten Schritt seines Lebens: Er stieg auf ein Drahtseil, das er und seine Helfer in der Nacht zwischen den Türmen gespannt hatten, und balancierte eine dreiviertel Stunde auf einem fünfundsiebzig Meter langen Stahlseil zwischen den Zwillingstürmen über Manhattan.

Auf diesen Moment lief alles hinaus, auf diesen Augenblick hatte sich der Autodidakt jahrelang vorbereitet, seit er in einer Pariser Zahnarztpraxis über den Bau des World Trade Centers gelesen hatte. Damals war in ihm ein Plan gereift, der ihn nicht mehr losliess, der ihn obsessiv verfolgte und der ihn aber auch blind für vieles andere machte.

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Nun hat der britische Dokumentarist James Marsh den Hochseilakt des eigenwilligen Franzosen rekonstruiert und ist im Gegensatz zu Petit kein Risiko eingegangen: Mithilfe von Archivmaterial, nachgestellten Szenen, Fotografien und den Schilderungen alter Weggefährten und Helfer steht Man on Wire ganz im Zeichen der Bewunderung eines Ausnahmetalents. Bereits zu Beginn montiert Marsh Jugendaufnahmen Petits und die sich gerade in Bau befindlichen Türme als split screen und suggeriert fortan eine Symbiose zwischen Mann und Monument. Wie bei Petit ist auch bei Marsh dramaturgisch alles auf ein einziges Ziel ausgerichtet, und so wird sogar Petits Spaziergang zwischen den Türmen von Notre Dame oder über die Hafenbrücke von Sydney zur Aufwärmübung.

Nachdem der Ausgang bekannt ist – Petit bekam eine heute nutzlos gewordene Dauerkarte für die Aussichtsplattform –, setzt Marsh in erster Linie auf gängige Methoden, um die Spannung aufrecht zu erhalten: Immer wieder droht das illegale Spektakel an logistischen Hindernissen und dem falschen Bodenpersonal zu scheitern; mehrmals müssen sich Petit und seine Helfer vor Wachposten verstecken; und erst in letzter Sekunde erwischt man in 417 Meter Höhe das erste dünne Seil, das mittels Pfeil auf den anderen Turm geschossen wurde. Dass die Musik Michael Nymans zu dieser Reinszenierung entsprechend Nervosität suggeriert, rundet das an einen Spionagekrimi gemahnende Bild ab.

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Spannend ist Man on Wire somit vor allem, wenn die Erinnerungen der Beteiligten Schritt für Schritt und Satz für Satz das World Trade Center – beziehungsweise die nachgebauten Kulissen – nach fünfundzwanzig Jahren noch einmal besetzen und auch die heikle Gruppendynamik noch einmal zum Vorschein kommt. Denn nach dem grossen Schaustück sollte die Mannschaft rund um Petit zerfallen: Irgendetwas war geschehen an diesem Morgen, als sich der Artist und zugleich begnadete Selbstdarsteller – kaum aus dem Polizeigewahrsam entlassen – im Moment seines grössten Ruhmes von Presse und Zuschauern bejubeln liess. An diesem Punkt angelangt, versagt noch heute den engsten Begleitern von damals die Stimme, und hier beendet auch James Marsh offensichtlich gerne seinen Bericht.

Der internationale Festivalerfolg mit anschliessendem Oscar für den Besten Dokumentarfilm verwundert nicht: Schmackhaft aufbereitet zehrt Man on Wire einerseits von der Reminiszenz an dieses «künstlerische Verbrechen des Jahrhunderts», wie es Paul Auster bezeichnete, und andererseits von der Gewissheit, dass dieses unwiederholbar geworden ist. Die Erinnerungen des Mannes sind Teil des zerstörten Monuments geworden.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2009 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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