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Bellamy

Text: Martin Girod / 03. Juni 2009

Mit dem Grab von Georges Brassens auf dem Friedhof von Sète beginnt der Film. Es folgt die Widmung «En souvenir des deux Georges». Während die Chansons des nonkonformistischen Sängers in der Handlung des Films eine nicht unwesentliche Rolle spielen, bleibt der andere Georges ungenannt. Doch die alsbald auftauchende Figur des Kriminalkommissars macht deutlich, dass es sich nur um den Schriftsteller Georges Simenon, gängig als «Balzac des Kriminalromans» bezeichnet, handeln kann. «BELLAMY», so Claude Chabrol in einem Interview des Figaro, sei (nach früheren echten Simenon-Verfilmungen wie Les fantômes du chapelier) «die Adaptation eines Romans, den Simenon nie geschrieben hat und nicht einmal zu schreiben träumte».

Chabrols Hauptfigur heisst nicht Maigret, sondern Bellamy. Die Ausgangssituation kommt einem aus Simenon-Romanen bekannt vor: Der Pariser Kriminalkommissar, bei Chabrol zeitgemäss eine mediale Berühmtheit, befindet sich in den Ferien, doch die Katze kann das Mausen nicht lassen. Oder vielmehr: Da streicht eine suspekte Figur um das bellamysche Ferienhaus in Nîmes, eine Maus, die ganz offensichtlich statt vom notorisch dummen lokalen Kommissar lieber vom prominenten Kriminalkater aus der Hauptstadt gejagt würde. Und dessen Jagdinstinkt ist, trotz Abschirmungsversuchen seiner ihn nur zu gut kennenden Ehefrau, rasch geweckt.

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Verständnisvoll nimmt Bellamy, ganz in der Maigret-Tradition mehr einfühlsamer Übervater als professionell-kalter Schnüffler, seinem neuen Bekannten zu mitternächtlicher Stunde die Beichte ab, die dieser unter falschem Namen lückenhaft und wohl beschönigend ablegt. Der versuchte Versicherungsbetrug des langjährigen Versicherungsagenten Leullet kann den Kommissar nicht sonderlich erschüttern, weiss er doch, dass das grosse Geschäft mit den Prämien nur als Fassade für die weit grössere Weisswäscherei dahinter dient, gegen die die Kriminalpolizei ohnehin nicht vorzugehen vermag.

Bellamy ist von Natur und Berufs wegen ein misstrauischer Mensch, er durchschaut die im Alltag ausgelegten Übervorteilungsfallen wie Kundenkarten, Treueprämien und Schönheitswahn, er lässt sich auch von Leullet, der ihm damit schmeichelt, seine Memoiren gelesen zu haben, nicht in falscher Sicherheit wiegen, und doch muss ihn erst seine Frau auf das Offensichtliche bringen: Das Foto, das ihm der Beichtende gegeben hat und das den Mann zeigen soll, den dieser getötet haben will, zeigt in Wirklichkeit Leullet selbst.

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«Die Richter haben gerne klare Verhältnisse: auf der einen Seite die Guten, auf der anderen die Bösen», meint Bellamy einmal. Er, der Polizist, blickt tiefer in das Wesen der Menschen. So belehrt er den sich selbst als Schuft bezeichnenden Leullet: «Nein, Sie sind fifty-fifty, wie wir alle.» Auch der Regisseur ist jedem Schwarz-Weiss-Schematismus abhold und verunsichert sein Publikum gerne. Die sparsam eingesetzten Rückblenden etwa, sind es imaginäre Bilder aus der Erinnerung der Figuren oder nur konventionelle Verschachtelungen der Erzählung? Während der (versuchte) Versicherungsbetrug doch darauf beruht, dass der scheinbar Tote in Wirklichkeit lebt und ein anderer an seiner Stelle sterben musste, so erklärt uns Bellamy, die meisten Menschen, die töteten, wollten sich in Wirklichkeit selbst aus der Welt schaffen – und liefert damit den psychologischen Schlüssel zum Fall. Und was hat die kaum zu überhörende Alliteration der Namen des Täters (Leullet) und des Opfers (Leprince), ohnehin beide vom selben Darsteller, Jacques Gamblin, verkörpert, zu bedeuten, zu der sich noch jene mit dem Namen des angeblich bescheuerten lokalen Kommissars Leblanc gesellt? Täter und Opfer, Jäger und Gejagte, sind sie sich ähnlicher, als es die gängige Richterweisheit wahrhaben will?

Darauf, dass sogar die Übervaterfigur Bellamy ihre andere, dunkle Hälfte hat, deuten zu Beginn des Films nur harmlose Zeichen hin, die man leicht übersieht oder schnell wieder vergisst: Etwa wenn der sich im Urlaub Langweilende beim Kreuzworträtsellösen das Wort «bonheur» nicht finden kann oder wenn seine Frau betont, er trinke nicht mehr. Selbst wenn Bellamys vom Leben offensichtlich weniger verwöhnter Halbbruder mit dem sprechenden Namen Jacques Lebas sich beklagt, Bellamy habe alles Glück für sich gepachtet und ihm sei nichts geblieben, mag man das anfänglich nur als Ausdruck des Neids verstehen, bis einem die Vehemenz der Reaktionen des sonst so besonnenen Bellamy seinem Bruder gegenüber auffällt.

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Mit einem W.H.Auden-Zitat resümiert Chabrol am Ende, dass hinter jeder Geschichte noch eine andere Geschichte stehe und darin immer mehr stecke, als das Auge erfasse. Im Bestreben, solche Einsichten zu vermitteln, mag das Drehbuch von Bellamy an einigen Stellen etwas bemüht konstruiert ausgefallen sein. Das Verhalten der Brüder wird psychologisch erklärt durch Bellamys späte Beichte, dass er in der Kindheit den jüngeren Bruder einmal um ein Haar umgebracht habe, weil er sein Engelsgesicht nicht mehr ertragen konnte. Und der Film endet damit, dass der Bruder mit dem Auto des Kommissars tödlich verunfallt – als deutliche Parallele zum Beginn des Films mit dem ausgebrannten Wagen Leullets.

Stärker als solche Drehbuchakrobatik wirkt in Chabrols entspannter Inszenierung die Figurenzeichnung. Gérard Depardieu fügt sich der langen Kinoreihe schwergewichtiger Simenon-Kommissare – wie Pierre -Renoir, Charles Laughton, Jean Gabin und Bruno Cremer – auf eigenständige Weise glaubwürdig an (eher trotz als wegen seiner immer beunruhigenderen Körperfülle). Und in Marie Bunel als Madame Bellamy hat er eine absolut ebenbürtige Partnerin gefunden. Sie zusammen ergeben ein höchst plausibles langjähriges Ehepaar mit seiner Vertrautheit und Vertraulichkeit, aus der ein gegenseitiges Vertrauen entspringt, stärker als die im Laufe der Zeit gewachsene Allergie auf die Schwächen des anderen. Ein älteres Paar, das zärtlich zueinander sein kann, ohne lächerlich zu wirken, und dessen Interesse aneinander durchaus auch eine sinnliche Seite hat.

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Auf der Gegenseite wird die Verblendung Leullets, dem die sexuelle Attraktion einer jungen Tanzpartnerin zum Verhängnis wird, verständlich, wenn Mme Leullet mit den Worten «habillé, je l’aimais bien» das Drama ihrer Ehe erahnen lässt, einer Ehe, die offenbar vor allem ökonomisches Zweckbündnis zweier wenig Privilegierter war. Geld soll in §bellamy immer wieder dazu dienen, emotionale Mankos und Verletzungen zu kompensieren.

Mit einem so unwahrscheinlich schön absurden Einfall, wie ihn ohne die Inspiration durch einen realen Vorfall wohl kein Drehbuchautor zu erträumen gewagt hätte, nimmt die Kriminalstory ein versöhnliches Ende: Leullets Anwalt stimmt anstelle eines konventionellen Plädoyers ein Chanson von Brassens an und öffnet so die Herzen des Gerichts.

Georges Brassens hat Freundschaft und Liebe besungen, seine Chansons durch den rauen Ton aber vor reiner Sentimentalität bewahrt. Georges Simenon entwarf in seinen Romanen «Porträts der bürgerlichen Gesellschaft, erzählt von ihren kriminellen Rändern her» (Gerhard Midding). Die Chansons des einen und die Krimis des anderen waren gleichermassen populär. Die Nähe Claude Chabrols zu den beiden Georges leuchtet ein: Er verstand und versteht es auch nach über fünfzig Filmen, einen unverbrauchten Blick zu werfen auf Persönliches wie Gesellschaftliches und beides mit souveräner Altersweisheit in der alltäglich-unentwirrbaren Verknüpfung, ja Verstrickung aufzuzeigen.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2009 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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