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Revanche 10

Revanche

Text: Michael Pekler / 03. Juni 2009

Ein See mitten im Wald. Auf der Wasseroberfläche spiegeln sich die dunklen Bäume des Ufers und vereinzelte Wolken. Vogelgezwitscher. Idylle. Österreich. Plötzlich eine Erschütterung. Ein Gegenstand fliegt in hohem Bogen ins Wasser. Kreisförmig breiten sich Wellen aus, pflanzen sich auf der Oberfläche ineinandergehend fort. Das Prinzip von Ursache und Wirkung, konzentriert auf ein einzelnes Bild.

Dieses erste Bild in Götz Spielmanns Revanche ist zugleich das vielleicht stärkste, nicht nur, weil es kurz vor Ende des Films noch einmal, aus anderer Perspektive, wiederholt werden wird. Es ist ein Bild, das buchstäblich einer Erschütterung geschuldet ist und die Auswirkungen als Naturgesetz festhält: Unaufhaltsam verteilen sich die Wellen in alle Richtungen. Man weiss, dass nach einer Weile die Oberfläche wieder glatt sein und das Gewicht des Wassers sich gleichmässig verteilt haben wird, doch bis dahin muss man warten können.

Das Warten ist nämlich ein entscheidendes Moment in Revanche. Alle Figuren scheinen auf etwas zu warten, sei es auf eine bessere Zukunft, auf ein Haus im Grünen, auf Kinder – oder eben auf Rache. Hier, am Ufer dieses Sees mitten im österreichischen Waldviertel, findet auch das Warten ein Ende, das zwei Männer schicksalhaft miteinander verbindet. Durch Schuld und Sühne aneinandergefesselt, läuft alles auf diese einzige Begegnung hinaus, sitzen die beiden für kurze Zeit nebeneinander auf einer Holzbank, während zwischen ihnen alles nach derselben Klarheit verlangt wie der des Wassers. Denn der eine hat getötet und dem anderen das für ihn einzig Kostbare auf dieser Welt genommen; der andere kann den ihm zugefügten Verlust und den Schmerz nicht überwinden. Und doch wird ihm in diesem Moment bewusst, dass er auch selbst vielleicht nicht ohne Schuld ist.

Revanche 01

Ziel und Zufall

Götz Spielmann und sein Kameramann Martin Gschlacht, die nach der Schnitzler-Verfilmung Spiel im Morgengrauen (2001) und Antares (2004) zum dritten Mal zusammenarbeiten, inszenieren in Revanche mehrere solcher präzise komponierten Einstellungen. «Gesellschaftskritik ist weder mein Ausgangspunkt noch mein Ziel», meinte Spielmann in einem Interview. «Ich glaube, aus der Genauigkeit ergibt sie sich von selbst.» Wie sich bei Spielmann etwas «von selbst ergibt», kann zu Beginn von Revanche studiert werden, wenn ein Mann den Rasen vor seinem neuen Einfamilienhaus mäht, während er von seiner Frau, die gerade einen Kuchen ins Backrohr schiebt, durch eine Glaswand beobachtet wird: trügerischer kann die Idylle eines Familienlebens nicht sein. Dass in der Beziehung des Paars einiges nicht stimmt und nicht nur das Kinderzimmer leer geblieben ist, erkennt man hier sofort. Nach aussen hin haben es Robert und Susanne, wie man so beschönigend sagt, zu bescheidenem Wohlstand gebracht. Die Schuld des Polizisten ist – noch – finanzieller Art, und wenigstens der Kredit bei der Bank wird bald getilgt sein.

Wahrscheinlich ist es sogar dieselbe Bank, auf die der aus dem Gefängnis entlassene Alex seine Hoffnungen setzt, um dem Wiener Rotlichtmilieu zu entkommen und mit seiner Freundin Tamara ein neues Leben zu beginnen. Es ist ein Zufall, dass sein Grossvater hier in diesem kleinen niederösterreichischen Ort lebt, es ist auch Zufall, dass Robert gerade an diesem Tag Dienst versieht. Und natürlich ist es Zufall, dass der Polizist im entscheidenden Moment auf die Autoreifen zielt, aber um einen Meter zu hoch trifft. «Der Trottel hat geschossen», sagt Alex noch zu Tamara, als sie mit dem gestohlenen BMW davonpreschen. Doch Tamara gibt keine Antwort. Tamara ist tot.

Revanche 02

Auge für Auge

Das in den letzten Jahren dramaturgisch leidlich erprobte Zufallsprinzip erfährt in Revanche eine völlig neue Dimension. Nicht, weil der Film dadurch in der Mitte kühn einen radikalen Schauplatzwechsel vollzieht, sondern weil der Moment des Unglücks zu einer philosophischen Untersuchung von Rache und Vergebung Anlass gibt.

«Versöhnung ist das genaue Gegenteil der Verzeihung, die Ungleichheit herstellt», notiert Hannah Arendt 1950 in ihrem «Denktagebuch». Durch die Versöhnung entstünde wieder ein Gleichgewicht der Kräfte, verteile sich die Last auf den Schultern beider. Die Verzeihung jedoch, so Arendt, sei nur «ein Scheinvorgang, der darin besteht, dass dem einen scheinbar die Last von den Schultern genommen wird von einem Andern, der sich als unbelastet darstellt.»

Alex, den Johannes Krisch als stets leicht gebückten Mann darstellt, der den Schmerz krampfhaft in seinem Inneren mit sich herumträgt, nimmt Robert keine Last von den Schultern, er könnte es nicht einmal, wenn er es wollte. Dass Alex nicht verzeihen kann, liegt nämlich nicht nur am schmerzlichen Verlust, der ihm zugefügt wurde und der ihn seinen Racheplan schmieden lässt, sondern auch am zunehmenden Gefühl der Sinnlosigkeit seiner Rache. «Auge für Auge, Zahn für Zahn» lautet die berüchtigte – und immer wieder falsch interpretierte – Talionsformel, und wie für alle Rächerfiguren der Literatur und Filmgeschichte vor ihm meint auch Alex, nur dadurch das Gleichgewicht wieder herstellen zu können. In diese Tradition fügt er sich nahtlos ein, wenn er langsam in das Leben seines Opfers eindringt. Dass ihm bei seiner ersten Annäherung an Roberts Haus die Kamera wie eine heimliche Beobachterin folgt, passt hier nur zu gut. Mehr intuitiv als wissentlich zieht es Alex förmlich in die Nähe seines Opfers und eröffnet er mit Susanne ein verhängnisvolles Kräftedreieck. Denn Alex’ Rache ist nicht blind, im Gegenteil: Kein Detail scheint ihm zu entgehen, bis zu dem Moment, auf den er wartet.

Revanche 08

Schritt für Schritt

Spielmanns mittlerweile mehrfach prämierte und für einen Oscar nominierte Arbeit erinnert mitunter an französische Psychothriller der Siebzigerjahre, und doch macht der Autor und Regisseur Spielmann aus dem antikarchaischen Szenario eines Rachedramas etwas völlig Neues. Mit grösster Sorgfalt verfolgt er jede kleinste Änderung im Verhalten seiner Charaktere, und zunehmend tritt die Rachegeschichte hinter einer anderen, zweiten Erzählung zurück – einer über das menschliche Dasein schlechthin. Tatsächlich verwendet Revanche eine einzige Minute für die Vorbereitung der beabsichtigten Rachetat, wenn Alex einmal seinen Revolver hervorholt und überprüft. Denn Spielmann interessiert sich nicht für Strategien oder Pläne, sondern wie schon in seinen frühen Sozialstudien Dieses naive Verlangen (1993) oder Die Angst vor der Idylle (1994) für Zustände; schaut den Menschen bei ihrer inneren Arbeit zu, beim Denken und Bewältigen; und ergreift selbstverständlich nicht Partei, weil er die Frage nach Schuld nicht beantwortet, sondern stellt. Es ist ein langsamer, beinahe schleichender Prozess, den Alex durchlebt. Es ist ein Prozess, der – neben den Spiegelungen – ein weiteres Sinnbild generiert: Nach Tamaras Tod hat sich Alex auf den Bauernhof seines Grossvaters zurückgezogen und geht nun dem Alten bei der Arbeit zur Hand. Ein riesiger Holzstoss in der Scheune wartet darauf, für den Winter zerkleinert zu werden, und das tägliche Holzhacken wird so zum zentralen Motiv: nicht nur als Sinnbild der Destruktion, sondern auch als physisches Abtragen von Schuld. Mit jedem zersägten Baumstamm, mit jedem zerhackten Holzklotz, mit jedem Tropfen Schweiss nähert sich Alex einen Schritt seinem eigentlichen, noch unbekannten Ziel.

Zu seinem Grossvater, den er zuvor jahrelang nicht gesehen hat, findet Alex eine neue Beziehung. «Ist niemand da?», fragt er, als er dessen Haus betritt, nachdem er die Tote zurückgelassen hat. Doch, es ist jemand da: Ein alter Bauer und eine Ziehharmonika, auf der er vor dem Haus spielend auf seinen letzten Tag wartet – auf einer Holzbank.

Revanche 15

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2009 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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