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Pandora's Box

Text: Martin Girod / 03. Juni 2009

An Festivals konnte man in den letzten Jahren immer wieder bemerken, dass aus der Türkei neben einer florierenden kommerziellen Filmproduktion auch leisere und persönlichere Werke kamen. Andererseits hat eine profilierte Filmemacherin wie Yesim Ustaoglu, die vor zehn Jahren mit ihrem Zweitling Journey to The Sun international aufgefallen und (dank dem Verleih trigon-film) auch in der Schweiz ins Kino gekommen ist, in der Türkei offenbar Mühe gehabt, die Finanzierung für weitere Projekte zu finden. Unterstützt von Koproduzenten aus Frankreich, Deutschland und Belgien sowie einem Beitrag aus dem Schweizer Fonds Visions Sud Est konnte sie letztes Jahr schliesslich ihren vierten Langspielfilm Pandora’s Box realisieren.

Es erging ihr damit nicht anders als vielen ihrer Kolleginnen und Kollegen aus Asien, Afrika oder Lateinamerika, die dankbar sein müssen für ein paar Brosamen vom Reichtum der westeuropäischen Industriestaaten, weil sie ihnen die Weiterarbeit ermöglichen. Eine Zusammenarbeit, die natürlich keineswegs selbstlos ist: Im Gegenzug wird das europäische Kinoangebot um erfrischende Farbtupfer belebt und kommen die Fernsehanstalten dank den niedrigeren Produktionskosten in diesen fernen Ländern preisgünstig zu Programmen. Die Beteiligung europäischer Filmtechnikerinnen und -techniker sorgt zudem für einen beidseits anregenden Erfahrungsaustausch. Was also könnte man im Ernst gegen diese immer weiter verbreitete Praxis haben?

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Wer zahlt, befiehlt bekanntlich. Es ist den westlichen Koproduzenten und Fernsehredakteuren nicht zu verargen, dass sie im Gegenzug für ihren finanziellen Beitrag kräftig mitreden wollen. Sie müssen die Filme in den Kinos ihrer Länder auswerten können, sie stehen unter dem Druck, mit der Ausstrahlung dieser Filme ansehnliche Zuschauerquoten zu erzielen. Unter diesem Einfluss westlicher Geldgeber nähern sich die koproduzierten Filme immer mehr den westlichen Modellen an: Man spürt die Drehbücher, die von Fachleuten nach den weltweit kopierten Standards à la Hollywood geschliffen wurden, die Optik europäischer Kamerameister, den Rhythmus hiesiger Schnittkünstler. Die Filme gewinnen an dem, was hierzulande als «Professionalität» gilt – und verlieren leider oft an Eigenständigkeit und Unverwechselbarkeit.

Yesim Ustaoglu gehört ohne Zweifel zu den starken Regiepersönlichkeiten, die ihre filmische Sicht der Welt selbst gegen solche starken Einflüsse durchzusetzen verstehen. Ihre Bilder aus den türkischen Bergen oder von Istanbul, ihre Figurenzeichnung, ihr Erzählduktus zeugen von grosser Eigenständigkeit. Und dennoch ist Pandora’s Box unübersehbar von einer Dualität der Zielsetzungen geprägt: Yesim Ustaoglu erzählt, um zwei unterschiedliche Zielpublika zu bedienen, in ihrem Film eigentlich zwei Geschichten. Jene der mittleren Generation, dreier Geschwister, die vom Land nach Istanbul gekommen sind und deren Lebenswege exemplarisch aufgefächert werden, ist unverwechselbar in der türkischen Realität verankert. Ehefrau und Mutter die eine Schwester, berufstätig und mit einem Liebhaber die andere, Aussteiger und Junkie der Bruder, sind sie alle drei Entwurzelte und werden mit den Lebensmustern, die das moderne Stadtleben bereithält, nicht wirklich glücklich.

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Die zweite Geschichte ist jene der allein auf dem Land zurückgebliebenen Mutter und ihrer sich immer deutlicher manifestierenden Altersdemenz: ein aktuelles und universelles Thema, für das man beim Publikum der koproduzierenden westeuropäischen Staaten Interesse voraussetzen darf. Die Regisseurin verknüpft die beiden Geschichten dadurch, dass sie die Pflegebedürftigkeit der Mutter zum Katalysator macht, der die drei Geschwister zusammen- und aufeinandertreffen lässt, während deren unterschiedliche Reaktionen die allgemeine Hilflosigkeit Demenzkranken gegenüber mustergültig spiegelt. Und Yesim Ustaoglu versucht darüber hinaus, mit der nächstfolgenden Generation, dem etwa achtzehnjährigen Sohn der älteren Tochter, ein utopisches Bindeglied zu schaffen: Er, der die Grossmutter vorher kaum gekannt hat, wird als der Mensch gezeichnet, der am ehesten fähig ist, sie so zu akzeptieren, wie sie ist. Dies gibt ihr schliesslich die Kraft, sich auf den einsamen letzten Weg auf den Berg zu machen, «bevor ich auch das vergesse», und so – wie der Film durch seine Bilder eindringlich vermittelt – mit der Natur wieder eins zu werden.

Ein weiterer Kniff, Produktionszwänge und Autorenprojekt unter einen Hut zu bringen, ist die Besetzung der Grossmutterrolle: Mit Tsilla Chelton, die 1990 als «Tatie Danielle» im Film von Etienne Chatiliez zum Publikumsliebling avancierte, steht wenigstens eine auch dem westlichen Publikum bekannte Darstellerin im Mittelpunkt. Dass die alte Frau nicht mehr viel spricht, erleichtert das Nachsynchronisieren, und wenn Tsilla Chelton in der türkischen Umgebung als völliger Fremdkörper wirkt, wird dies teilweise dadurch legitimiert, dass die Mutter durch ihre Demenz den Kindern eine Fremde geworden ist.

Wie weit Yesim Ustaoglu dank ihrem intelligenten und spannenden Umgang mit den Koproduktionszwängen die Quadratur des Kreises geglückt ist oder ob die unterschiedlichen Interessen letztlich doch eine Hochzeit von Feuer und Wasser erzwungen haben, diese Frage ist sehr unterschiedlich beurteilt worden. In jedem Fall ist sie auf hohem Niveau gestellt, und so wird Pandora’s Box hoffentlich dazu beitragen, die notwendige Auseinandersetzung über Fluch und Segen solcher Koproduktionen weiter zu befördern.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2009 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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