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Sommervögel

Zwei Aussenseiter, die sich gegen alle Widerstände der Verschrobenheit des anderen letztendlich selbst erkennen. Auf dem Zeltplatz «Paradisli» beweist Paul Riniker viel Einfühlvermögen in komische Käuze und einsame Wölfe.

Text: Lara Sascha Bleuler / 10. Nov. 2010

Die braunen Augen von Greta betrachten neugierig ein Insekt, das sie zwischen den Fingern hält. Ganz genau sieht sich die junge Frau das Tierchen an und ist beglückt von diesem einfachen Moment des Innehaltens. Zeitgleich, so suggeriert es die Parallelmontage, fährt ein Postauto über die Landstrasse, der Fahrtwind zeichnet sanfte Muster ins Getreidefeld, wie Wellen am Meeresstrand. Der Bus hält an einer Weggabelung im grünen Nirgendwo. Res, der letzte Passagier, steigt schlaftrunken aus und blinzelt in die Sonne. Ein Wegweiser zeigt verheissungsvoll Richtung Campingplatz «Paradiesli» – auf diesem malerischen Zeltplatz für gestrandete Seelen im bernischen Erlach werden sich die Wege der zwei flott eingeführten Protagonisten kreuzen. Für Res, der die letzten Jahre wegen Totschlags im Gefängnis sass, ist es ein Ort des Neuanfangs, für die dreiunddreissigjährige Greta ein Tummelplatz ihrer kindlichen Träume. Greta ist von ihrer körperlichen Entwicklung her zwar eine erwachsene Frau, in ihren geistigen Fähigkeiten aber zurückgeblieben; sie wohnt immer noch wohlbehütet bei ihren Eltern.

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Es bleibt unklar, welchen Grad von Behinderung die junge Frau genau aufweist, und das ist gut so; der Spielfilmerstling von Paul Riniker erzählt vielmehr von zwei Aussenseitern, die sich gegen alle Widerstände in der Verschrobenheit des anderen letztendlich erkennen und wahre Geborgenheit finden. Für Greta, deren spontane, ungefilterte Emotionalität ihr Herz immer gleich auf die Zunge trägt, ist Res die grosse Liebe, und sie umschwärmt ihn voller Hingabe. Res, der emotional sicher “behinderter” ist als Greta, sträubt sich vorerst mit aller Kraft gegen ihre Annäherungsversuche. Als einsamer Wolf – das Motiv hat er sich auch auf die Schulter tätowiert – ist er seinen Mitmenschen gegenüber zutiefst misstrauisch; zurückgezogen haust er in seinem Wohnmobil und verdient sich als Allrounder seinen bescheidenen Unterhalt.

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Riniker hat als langjähriger Dokumentarfilmer viel Einfühlvermögen für verschrobene Protagonisten bewiesen. Dass er mit fast siebzig Jahren sein Spielfilmdebüt wagt, zeugt von Experimentierfreudigkeit und ist ihm inmitten einer chronisch braven Schweizer Filmlandschaft hoch anzurechnen. Solide inszeniert er seine unmögliche Liebesgeschichte mit Sabine Timoteo und Roeland Wiesnekker in den Hauptrollen – eine Besetzungsstrategie, die sich im Falle von Wiesnekker etwas zu sehr auf dessen altbewährtem Figurenprofil ausruht (weichbäuchiger Aussenseiter mit Aggressionsüberschuss und liebem Kern), im Falle von Timoteo aber durchaus bezahlt macht. Der Versuchung, eine “Behindertenrolle” im übereifrigen Schauspielerehrgeiz zur qualvoll anzusehenden Gesichtsakrobatik verkommen zu lassen, widersteht Timoteo gekonnt und gibt ihrer Greta genussvoll ein farbiges Charaktergewand, immer nur knapp an der Normalität vorbei. Dies entspricht sicherlich dem zentralen Anliegen des Films: zu zeigen, dass die sogenannt Normalen von “Andersbegabten” wie Greta viel lernen können. So findet Res durch Gretas bedingungslose Liebe wieder zu seinem wahren Ich, seine Schutzmauer bricht schliesslich zusammen – schade, dass dies ausgerechnet einmal mehr im dramaturgisch überschätzten Gerichtssaal geschehen muss –, und die beiden Aussenseiter können sich schliesslich in die Arme fallen.

Bis dahin ist jedoch ein steiniger Weg zurückzulegen. Der Film braucht in melodramatischer Manier seine Zeit, bis die Exposition durchgestanden ist und die Figurenkonstellation endlich eine weitere Drehung erfährt. Res trotzt in seiner stachligen Art ausdauernd den Annäherungsversuchen von Greta, die Nebenhandlung von seiner “dunklen” Vergangenheit wirkt mitunter etwas bemüht. Der Antiheld schleicht sich des nachts zu seinen ehemaligen Buddies, den «Broncos», doch die düsteren Motorradgesellen wollen von Res nichts mehr wissen, schliesslich hat er einen der «Broncos» im Affekt totgeschlagen. Die ehemalige Ersatzfamilie verstösst den Heimkehrer, sie hat sogar seine heissgeliebte Harley Dyna in ihre Einzelteile zerlegt, ein herber Schlag für den einsamen Res. Anstatt in solchen Momenten der emotionalen Kraft seines Darstellers zu vertrauen und uns in dem auch sonst eher geschwätzigen Film einen Moment der Stille zu gönnen, wird die Gefühlswelt von Res hier leider mit einem expliziten Mundartohrwurm überdeutlich gemacht. Mani Matters unschlagbares «Will si Hemmige hei», das später im Camping-Restaurant aus der Jukebox scheppert, passt da schon besser zur verklemmten Zeltplatzmentalität. So schwankt der Film mit seinen einfach gestrickten Nebenplots und seiner Dialoglastigkeit mitunter etwas unentschlossen zwischen harmlos deutschweizerischem Sonntagabendfilm und wahrhaft ergreifendem Beziehungsdrama. Gretas direkt nach aussen getragene Gefühlswelt berührt, die Ausbrüche, in denen sie ihre Sehnsucht unzensuriert dem borstigen Res entgegenschmettert, sind von entwaffnender Intensität. Es sind solche grossartig inszenierten und gespielten Momente, die den Film aus den Schranken eines Feel-Good-Movies reissen und ihn zu einem Arthouse-Publikumsliebling prädestinieren. Riniker hat die Feuertaufe bereits am Filmfestival in Locarno gut überstanden, seine Schmetterlings-Greta wird sicherlich auch in den Wintermonaten manch abgekühltes Herz erfreuen und mit seinem archaischen Glauben an die unbesiegbare Kraft der Liebe erwärmen

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2010 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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