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Aisheen – Still Alive in Gaza

Der Schweizer Dokumentarfilmer Nicolas Wadimoff beobachtete während zwei Wochen den Alltag der Palästinenser im Gazastreifen nach dem Angriff der israelischen Militäroffensive im Dezember 2008. Nicht Leid und Tod, sondern das Leben nach der Katastrophe steht im Zentrum – ein Dokument schnörkelloser Alltagspoesie.

Text: Lara Sascha Bleuler / 08. Dez. 2010

Der Gazastreifen und der dort tobende Konflikt beschwören hierzulande sofort mediale Bilder, die das Gemüt schwer werden lassen: Steine werfende, Parolen rufende junge Palästinenser, Rauchschwaden über den Städten, das Heulen der Ambulanzen. Seit der israelischen Militäroffensive im Dezember 2008, bei welcher Gaza drei Wochen lang bombardiert wurde, hat sich die mediale Kulisse um weitere erschütternde Aufnahmen von Zerstörung und zahlreichen Opfern erweitert.

Der Schweizer Dokumentarfilmer Nicolas Wadimoff setzte sich mit Aisheen –Still Alive in Gaza das ambitionierte Ziel, weniger das Chaos, das Leid und den Tod, sondern das Leben nach der Katastrophe festzuhalten. Er hat den Gazastreifen wenige Wochen nach dem Angriff besucht und in Zusammenarbeit mit dem arabischen Kindersender «Al Jazeera» ohne Kommentar, ohne politische Wertung ein Dokument schnörkelloser Alltagspoesie produziert. Er beobachtete während zweier Wochen (dies die maximale Aufenthaltsdauer, die Journalisten von den israelischen Behörden zugestanden wird) das Treiben der Bewohner im Gazastreifen, die, wie betäubt von den Nachwehen des Angriffs, langsam wieder zu sich kommen. Zurückhaltung ist in dieser emotionsgeladenen Region sicherlich eine weise Strategie, doch hat sie den Nachteil, dass die Momentaufnahmen zu sehr an der Oberfläche bleiben.

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Die Eröffnungsszene gibt sogleich den sanften Tonfall des Films an. Sie spielt in den Trümmern eines zerbombten Vergnügungsparks. Ein kleiner Junge klettert über die Ruinen und fragt den Platzwart, ob er sich das Geisterhaus anschauen dürfe. Der bärtige Mann begleitet ihn auf der Tour durch das komplett zerstörte Gruselkabinett und erklärt ihm geduldig die Mechanismen der übriggebliebenen Schreckensmaschinen. Der Sarg von Dracula, dessen Motorik kaputt ist, wird zur beklemmenden Metapher für die echten Särge während der israelischen Offensive. Bald werde er hier aufräumen und die Geisterbahn wieder zum Funktionieren bringen, verspricht der Mann «Inshallah», so Gott will. Die meisten der Porträtierten schliessen ihre Aussagen mit dieser Redewendung ab: inmitten grosser Verzweiflung wird vieles in die Hände Gottes gelegt. Das hat weniger mit religiösem Fanatismus zu tun als mit Resignation und dem Glauben, dass nur noch Allah die hochschäumenden Wogen des gegenwärtigen Leidens glätten kann.

Der Film streift über die geografische wie mentale Landkarte dieser Region und erfasst die Gemüter in ihrer unterschiedlichen emotionalen Topografie. Ein Vater stapft mit seinen zwei Söhnen über das karge Ackerland, wo früher fünfhundertjährige Olivenbäume standen. Er erzählt, wie schon sein Grossvater Fieber kriegte, wenn einer seiner Bäume vom Unwetter verletzt wurde – nun ist von alledem nur noch ein kahles Schotterfeld übrig. Kameramann Frank Rabel gelingt es, den politischen Kontext, der den Alltag der Menschen prägt, in unspektakulärer Weise einzufangen. Seine Kamera wahrt stets eine respektvolle Distanz, scheint einfach da zu sein, schaut hin, im richtigen Moment. So gelingen, mitten in Trümmern und Not, auch Bilder von grosser Schönheit. Geradezu zynisch mutet da ein überraschender Anruf der israelischen Armee an, der die Olivenbauer in ihrer Kaffeepause erreicht. Per Telefonroboter wird anonym dazu aufgerufen, gegen grosszügige Bezahlung Informationen über den von der Hamas entführten israelischen Soldaten Gilad Shalit zu liefern. Unbeeindruckt winkt der Vater ab, und der Zuschauer wundert sich einmal mehr darüber, in welch absurde Sackgassen die Kommunikation zwischen den beiden verfeindeten Seiten mitunter zu führen scheint.

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Das Filmteam zieht weiter, den Ruinen zerstörter Häuser entlang zum Strand und trifft dort auf zwei Burschen, die stolz ihren einzigen Fang, den sie im erlaubten Fischgebiet erwischt haben, vors Objektiv halten. Ums Feuer sitzend erzählen sie eifrig, wie sie beim Fischen während des israelischen Angriffs in einen Kugelhagel gerieten. Ein älterer Fischer fragt, ob sie sich denn gefürchtet hätten, und fast eifersüchtig fügt er hinzu, dass sie immerhin die Chance gehabt hätten, eines ruhmreichen Märtyrertods zu sterben. «Jeder hat doch Angst zu sterben», gibt der Junge schlagfertig zurück, seine Augen blitzen trotzig. Es wird klar, dass dies nicht die gewünschte Antwort ist – und doch sind es gerade solche Äusserungen, die einen hoffnungsvollen Gegenpol zu Indoktrination und Hass bieten. So drückt es auch eine westlich gekleidete Sozialarbeiterin aus, die mit palästinensischen Jugendlichen arbeitet. Der weite Horizont am Strand von Gaza, hofft sie, werde nach und nach auch das intellektuelle Gedankengut seiner Bewohner beeinflussen und erweitern.

Auch Galgenhumor scheint eine wichtige Überlebensstrategie zu sein. Gerade die Jugendlichen, denen der Film seine besondere Aufmerksamkeit schenkt, strotzen vor kreativer Ironie. Einen angriffslustigen Affen des Zoos taufen sie treffend «Sharon», in spöttischem Andenken an den ehemaligen israelischen Premier. Im Zoo sind auch viele ausgestopfte Tiere zu sehen, die sich mangels Futter gegenseitig totgebissen haben oder während den Angriffen getötet wurden. Ein zerzaustes, kaum zu identifizierendes Stück Fell hängt leblos an einem Ast: die Todesursache des Löwen sei unklar. Lethargisch schaukeln die drei jungen freiwilligen Zoowärter auf der Schaukel hin und her, beklagen sich über unmotivierte Lehrer und ihr zermürbendes, perpektivenloses Dasein auf diesem Stück Land, das für sie zum Gefängnis geworden ist. Das süsse Nichtstun wird sichtlich zur Qual, auch kleinste Träume bleiben unerfüllt und Schuldzuweisungen an «die Juden» gehen stets einfach von der Lippe.

Die hochmotivierte RapGruppe «Darg Team», die mit ihrem aufmüpfigen Sprechgesang den Soundtrack zum Film liefert, besingt die prekären Zustände mit westlichen Rhythmen, was Begeisterungsstürme bei ihren Fans auslöst, in der sehr konservativen, religiösen Gesellschaft Gazas aber auf harte Kritik stösst. Nach einem Radiointerview wendet sich der Leadrapper direkt an Wadimoffs Filmteam und «den Westen». Er betont, dass er sich soeben selber habe zensurieren müssen, sein ehrliches Anliegen sei aber mehr Toleranz für Andersdenkende und eine Entschärfung des Feindbildes Israel. Die Radiomoderatoren sind baff angesichts des jungen Rebellen, dem sein Mikrofon als Waffe genügt.

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Am diesjährigen Filmfestival in Nyon wurde «Darg Team» – die Band erhielt einmal mehr keine Ausreisebewilligung – mittels einer Liveschaltung doch noch auf die Bühne geholt, wo sie im virtuellen Zusammenspiel mit Lausanner Rappern einen künstlerischen Befreiungsschlag darbot. Erfolg ist der Band wie dem Film sicher, zahlreiche Preise von ökumenischen wie humanistisch orientierten Jurys hat Wadimoffs Momentaufnahme aus Gaza bereits eingeheimst. Der Film ist ein klarer Hoffnungsträger, was zweifelsohne seine Berechtigung hat, doch bleiben einem bei aller Alltagsnähe die zahlreichen Protogonisten seltsam fremd, und man wünscht sich in manchen Szenen einen längeren Atem. Manch interessante Aussage bleibt im Raum stehen, während eilig zur nächsten Geschichte geschnitten wird – das ergibt zuweilen ein etwas willkürlich strukturiertes Sammelsurium von Gemütszuständen.

Eine gelungene Ausnahme ist da eine herrlich komische Szene im Zoo. Die Kamera beobachtet aus der Vogelperspektive, wie die drei jungen Helfer sich so konzentriert wie eifrig daran machen, die Knochen eines angeschwemmten Wals zu sortieren und das riesige Skelett auszulegen – die Szene stiller Alltagsrealität könnte man nachgerade als hoffnungsfrohes Symbol für einen nachhaltigen Wiederaufbau dieser gebeutelten Region lesen.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2010 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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