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Tournee 5

Tournée

Muntere Verlierer sind sie allesamt; der Manager einer Gruppe von fahrenden Künstlern ist ein Hochstapler und die Stripperinnen sind nicht mehr so geschmeidig und faltenlos wie früher. Mathieu Amalric nimmt einen auf eine überraschende Irrfahrt mit, die in den Süden Frankreichs führt, weg von alten Schulden und Geschichten.

Text: Pierre Lachat / 08. Dez. 2010

Versprochen ist, dass die Rundreise quer durch Frankreich führen soll, mit Anfang hier und jetzt, im nördlichen Le Havre. Und sei’s bei dieser, sei’s bei den folgenden Etappen: woran es keinesfalls mangelt, sind Zulauf und Applaus für die fahrenden Künstlerinnen, die sich willig, grosszügig, selbstironisch und illusionslos auf der Bühne produzieren: mit üppiger Begeisterung und vitaler Energie. Dass organisatorisch und erst recht finanziell nur ein schmaler Teil der ganzen Unternehmung auf soliden Füssen ruht, wissen die Artistinnen von Anfang an; ergeben bauen sie darauf, dass sich schon alles noch finden wird oder dann, was soll’s, in die Binsen geht. Rückschläge sind ihnen vertraut.

Denn in der Wandertruppe kommen Schein und Schein, Ungenügen und Ungenügen ideal zusammen. Die auftretenden Schönheiten sind angejahrt, der Manager, der sie durchs Land führen soll, ist auch kein Heuriger mehr: Amerikanerinnen die einen, Franzose der andere. Rührend schwindelt er sich durch, von Etappe zu Etappe, von einer Halbwahrheit zur nächsten, unverdrossen flunkernd, durchsichtig verschleiernd, vertagend und vertröstend. Strafrechtlich korrekt beschissen wird nur dann, wenn’s gar nicht anders geht. Noch im letzten Augenblick treibt er jeweils einen Saal auf, einen wackligen Transport oder ein paar verbleibende Hotelzimmer der mittleren Preisklasse. Er verhandelt Rabatte und lässt sich bei Pannen flugs etwas einfallen.

Tournee 7

«Autorinnen» unter der Gürtellinie

Annähernd so ergreifend wie er gehaben sich die Stripperinnen: mit Mitte Vierzig noch so, als wären sie anfangs Zwanzig. Dabei sind sie irreparabel hängebusig, breithüftig, vollschenkelig. Die Backenknochen stehen vor, die Haut ist unterpolstert, die Bewegungen sind suchend. So oder so, muntere Verlierer sind sie allesamt: er, der einst ein vielversprechender Produzent von quotenstarken Talkshows war, und kaum anders seine Tänzerinnen, die ehemals die etwas besseren Buden und Bühnen der USA abklapperten. Auf dem Strich der Nackedeien kann jedes hübsch gediehene Mädchen, blond oder blondiert und hinreichend abgebrüht, eine Einstellung ergattern. Ein bisschen Singen wird gewiss erwartet, aber die Ansprüche sind realistisch. Piepsige Stimmlein wie jene von Marilyn Monroe kommen gerade recht.

Anfangs noch wie vorgesehen über die westlichen Hafenstädte Nantes und La Rochelle kreuzend, arbeitet Joachim Zand, gespielt vom stoischen Mathieu Amalric, mit lauter Restposten. Ähnlich wie er selbst haben seine Schutzbefohlenen in den Hafenschenken und Kabaretts der Provinz vielleicht noch eine letzte Chance. Den gelinde prätenziösen Ansprüchen des Landes entsprechend erklärt er die schamlose Schar zu vollgültigen «Autorinnen» unter der Gürtellinie; er tut es jedoch wohlweislich, ohne die schon klamaukhaftparodistische Vulgarität ihrer Nummern wirklich zurückzubinden, in der sie sich wohl fühlen und die international zweifellos ein und dieselbe ist.

Als «New Burlesque» oder erneuerter, veredelter, ja schon fast intellektueller Striptease möchten die Auftritte verstanden sein und sich verkaufen. Entsprechend phantasievoll sind die Pseudonyme der halb bis ganz Entblössten, und hart an der Grenze zum Plausibeln bewegen sich die zugehörigen Lebensläufe. Da figurieren, immer mit einem sic also ohne orthographische Gewähr: Mimi Le Meaux, Kitten on the Keys, Dirty Martini, Julie Atlas Muz, Evie Lovelle und Roky Roulette. «Dames in Dis Dress», «Miss Exotic World 2004», «Miss Most Classic in Her Burlesque Hall of Fame», so blumig lauten die Bezeichnungen geltender oder verblichener Ehrungen und Engagements. Was Tatsache ist und was Erfindung, bleibt unerschlossen: auch darum, weil es verlorene Liebesmüh wäre, die einen dames oder Weibsbilder von den andern unterscheiden zu wollen. Mit seinen Attraktionen verbindet den Veranstalter offensichtlich ein Mass an Hochstapelei

Am Ort der Offenbarung

Die Frauen stecken in der europäischen Fremde, die Kontakte zur Heimat und zu ihrem alten Leben sind karg. Bei Joachim ist das Gegenteil der Fall. Die Rückkehr nach Frankreich setzt ihn einer regelrechten Verfolgung aus. Seine geschiedene Frau hetzt ihm unverlangt den gemeinsamen Sohn auf den Hals, den er nur wieder zurück auf den Zug nach Paris spedieren kann. Andere Mitglieder seiner Familie, der Bruder, der Vater, aber auch Ehemalige aus der Branche zeigen ähnliche Reaktionen. Warum der Gaukler nach Amerika ausgewandert ist und dort nur mässig reüssiert hat, wird Stück für Stück nachvollziehbar.

Toulon am Mittelmeer wäre das nächste Ziel, stattdessen landet die Gesellschaft, zufolge einer Fehlbuchung oder, wer weiss, eines Ablenkungsmanövers, auf der kleinen Île d’Aix bei La Rochelle: ganz und gar Hors Saison und in einem Strandhotel, das wohl kaum zur Wiedereröffnung ansteht. Vermutlich ist es der eine Zwischenhalt auf der ganzen Tournee, den Joachim als Ort der Offenbarung ausersehen hat oder der ihm als solcher wie gerufen über den Weg kommt. Und doch versäumt er es wieder, rundweg die ganze Wahrheit zu beichten. Der Süden könnte noch erreicht werden. Paris hingegen scheint weniger wahrscheinlich; dort warten zu viele alte Schulden, Bekannte und Geschichten.

Tournee 9

X für ein U

Was Mathieu Amalric als sein eigener Regisseur mit etlichem Talent und sehr viel mehr Vertrauen in den hilfreichen Zufall erzeugt, ist eine authentische Unvorhersehbarkeit. Überlegtes Vorgehen und Improvisation stossen in Tournée untrennbar aneinander. Der Verdacht schleicht sich ein, so könnte sich womöglich alles zugetragen haben, als er mit seinen Ausziehdamen auf die Piste ging, um unterwegs, quasi im Vorbeigehen und mit der linken Hand, noch einen Film zu drehen. Was heisst da, ihr habt nichts davon gewusst; hab’ ich euch doch alles gesagt! Irrfahrten sind schlecht planbar, darauf insistiert schon das Wort. Es wäre denn, da kommt jemand, der durchtrieben genug ist. Einem Fälscher von der Sorte X für ein U auf den Leim zu kriechen bereitet im vorliegenden Fall ein burleskes Vergnügen!

Tournee 1

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2010 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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