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Sin nombre

Text: Michael Ranze / 14. Apr. 2010

Das Aufnahmeritual ist grausam. Ein zwölfjähriger Junge wird von mehreren Halbstarken, die in einem geschlossenen Kreis um ihn herumstehen, brutal verprügelt: Backpfeifen, Fausthiebe, Fusstritte, sogar als er schon am Boden liegt und sich nur noch unzureichend vor dem sogenannten Jumpingin, das auf ihn niederprasselt, schützen kann. Dreizehn Sekunden dauert dieses Ritual. Dreizehn Sekunden, die sich wie in Zeitlupe zu dehnen scheinen. Die Kamera fängt währenddessen aus mehreren Blickwinkeln jeden Blutstropfen, jede Wunde, jede Schramme ein. Endlich ist der Countdown heruntergezählt, der verprügelte Junge steht unsicher auf und lächelt. Er gehört nun dazu, zur Mara Salvatrucha, der mit 100 000 Mitgliedern grössten und gefährlichsten Gang Mittelamerikas. Sie verbreitet auch im mexikanischen Tapachula mit beispielloser Gewalt Angst und Schrecken.

Erst kürzlich hatte Christian Poveda für seinen Dokumentarfilm La vida loca eine Jugendbande in El Salvador begleitet, die Konsequenzen der Gewalt beobachtet und die Bedeutung der Gang für den Einzelnen – sie bietet ihm Loyalität, Stabilität und Rückhalt – herausgestellt. Das Ritual, das in Sin nombre am Anfang steht, zeigt er erst ganz am Schluss. Doch die martialischen Tattoos, die die Gesichter wie ein Brandzeichen verunstalten, fungieren in beiden Filmen wie ein Ausrufezeichen, das lebenslange Zugehörigkeit signalisiert. Aussteigen unmöglich, von einer Rückkehr ins bürgerliche Leben ganz zu schweigen.

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Der amerikanische Regisseur Cary Joji Fukunaga, 1977 als Sohn eines japanischen Vaters und einer schwedischen Mutter geboren, verwebt in seinem Regiedebüt zwei Geschichten, die sich alternierend aufeinander zubewegen – bis sie schliesslich zusammentreffen. Im Mittelpunkt der einen Geschichte steht der achtzehnjährige Willy, genannt El Casper. Seit Jahren schon gehört er der Mara Salvatrucha an. Soeben hat er Lil’ Mago, dem Anführer der Gang, mit Smiley ein neues Mitglied zugeführt. Er ist der Junge, der so grausam verprügelt wurde. In der Zwischenzeit hat der Zuschauer Sayra kennengelernt, eine junge Frau aus Tegucigalpa in Honduras, die zusammen mit ihrem Vater und ihrem Onkel der Armut und der Hoffnungslosigkeit in ihrem Land entfliehen will. New Jersey lautet das Ziel, das ein besseres Leben verspricht und die Richtung vorgibt: Norden. So wie in Gregory Navas El norte von 1983, der den Ort der Sehnsucht schon im Titel trug. Eine brutale Reise war das damals, an deren Ende Ausbeutung und Rechtlosigkeit standen. Doch sie ist nichts gegen die Hölle, die Sayra und ihre Begleiter erwarten.

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Zur Inkarnation des Bösen gerät dabei Lil’ Mago. Schon sein Gesicht ist mit furchterregenden schwarzen Tattoos übersät, die ihm jegliche menschlichen Züge rauben. Von Beginn an strahlt er eine sadistische Kälte aus, die kein Gewissen und keine Liebe kennt. Das Böse hat er zum Prinzip erhoben. Nach einem Treffen mit Gang-Mitgliedern vergewaltigt er Caspers Freundin und tötet sie, wenn auch unabsichtlich. Die Leiche lässt er mit einem Schulterzucken liegen – ein Menschenleben gilt hier nicht viel. Ohne Lil’ Magos Erlaubnis beginnt in seiner Mara niemand eine Beziehung. Um von dem Verbrechen abzulenken, nimmt Lil’ Mago Casper und Smiley mit auf Diebestour. Sie wollen die Emigranten, die in Tapachula illegal die Güterzüge nach Norden besteigen, ausrauben.

Und nun laufen die beiden Handlungsstränge allmählich zusammen. Sayra hatte sich mit Vater und Onkel wochenlang durch den Dschungel von Honduras bis zur Grenze durchgeschlagen. Jetzt nur noch den Grenzfluss nach Mexiko überqueren und dann auf den Zug in Tapachula steigen. Das Mädchen aus Honduras und der Junge aus Mexiko begegnen sich auf dem Zugdach, ein scheuer Blick und dann noch einer. Und irgendwie weiss El Casper, dass er nun eigenverantwortlich handeln muss, soll es nicht wieder eine Vergewaltigung, wieder ein unschuldiges Opfer geben. Er erschlägt Lil’ Mago, als der sich über Sayra hermacht, schubst Smiley vom Zug und fährt mit dem Mädchen weiter Richtung Norden, ins Gelobte Land.

Von nun an schweift der Blick immer wieder vom Dach des Zuges. Dabei fängt die Kamera von Adriano Goldman die vorbeirollende Landschaft in atemberaubend schönen Einstellungen ein. Während die blinden Passagiere in der Sonne sitzen und sich Lebensmittel und Wasser reichen, werfen ihnen Kinder von den Bahngleisen Orangen zu. Doch die Idylle trügt. Schon im nächsten Ort fliegen Steine auf den Zug. So verfliegt auch das letzte Quentchen Hoffnung, das den Aufbruch in die USA begleitet hatte.

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Sin nombre ist von einer emotionalen Kraft und einer erzählerischen Wucht, die selten geworden ist im aktuellen Kino. Virtuos verbindet der Film die unterschiedlichen Themen von Gang-Kriminalität und Immigrationsproblematik und packt den Zuschauer mit einer Intensität und Wahrhaftigkeit, die vergleichbare Filme nicht besitzen. Während Tropa de elite von José Padilha (2008) den Kampf gegen die Jugendbanden in Rio de Janeiro zum Strassenkrieg hochstilisierte und bei allem aufrüttelnden Impetus doch der Faszination der Gewalt und des militärischen Chic erlag, wollte Marco Kreuzpaintner mit Trade (2007) den Zuschauer auch emotionalisieren und, bei allem Anspruch und aller Ernsthaftigkeit, unterhalten.

Nichts davon hier. Cary Joji Fukunaga zeigt ohne erhobenen Zeigefinger die unglaublichen Qualen, die Menschen auf sich nehmen, um ein besseres Leben zu führen. Menschen, die nichts haben und immer fürchten müssen, entdeckt und zurückgeschickt zu werden. Dass unter diesen Umständen überhaupt Liebe möglich ist, gehört zu den kleinen Wundern von Sin nombre.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2010 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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