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Micmacs 04

Micmacs à tire - larigot

Als Waisenkind in Nordafrika aufgewachsen und in einer Pariser Videothek angeschossen, landet Bazil schliesslich auf einer Schrotthalde, wo er mit Strassenhändlern in einer Höhle umgeben von Fundstücken, verbeultem Metall und Abfall haust. Dort sinnt der eigentlich gutmütige Mann auf Rache.

Text: Michael Ranze / 26. Mai 2010

Fünf Jahre lang, seit un Long dimanche de fiançailles, hat Jean-Pierre Jeunet keinen Film gedreht. Die Regie des fünften «Harry Potter»-Films hat er abgelehnt, weil er dem beliebten, feststehenden Mythos nichts Eigenes hätte hinzufügen können, ein anderes Projekt, die Yann-Martel-Adaption «Schiffbruch mit Tiger», scheiterte nach zwei Jahren Vorbereitungszeit aus Kostengründen. Man muss als Zuschauer diese lange Pause ein wenig im Hinterkopf behalten, um zu verstehen, warum Jeunet sein Füllhorn an Ideen wie losgelassen ausschüttet und – gerade zu Beginn, Le fabuleux destin d‘amélie poulain gleich – das Erzähltempo verdichtet. So wie er dort mit rasanter Geschwindigkeit seine Titelfigur vorstellte, mit raschen Bildern von Vorlieben und Abneigungen ihrer Eltern berichtete und die besonderen Umstände ihrer Geburt beschrieb, führt er hier auch seinen neuen Filmhelden ein.

Es beginnt in Nordafrika in den siebziger Jahren. Ein Minenräumer fliegt bei der Arbeit buchstäblich in die Luft, seine Frau verliert daraufhin den Verstand. Der kleine Bazil wächst darum im Waisenhaus auf. Schnell noch ein Paar Bilder von diversen Fluchtversuchen, und schon sehen wir, wie Bazil – nun von Dany Boon dargestellt, seit dem Überraschungserfolg von Bienvenue chez les ch’tis Frankreichs neuer Superstar – zwanzig Jahre später in einer Pariser Videothek arbeitet und sich zum wiederholten Male Howard Hawks’ The Big Sleep anschaut. Das ist natürlich keine zufällige Wahl. In The Big Sleep war der Stil, die Beschreibung einer eigenen Welt, wichtiger als der Inhalt, als die logische Schlüssigkeit. Etwas, was Jeunet sehr gefallen muss.

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Eine Schiesserei vor der Videothek, eine verirrte Pistolenkugel trifft den Helden genau zwischen die Augen. Soll man operieren oder nicht? – beides ist gleich gefährlich. Eine Münze wird entscheiden müssen. Jeunet erhebt den Zufall zum Erzählprinzip – wie erst kürzlich Alain Resnais zu Beginn von Les herbes folles. Die Kugel im Kopf wirft fortan einen Schatten auf Bazil – jeden Moment kann er sterben. Kaum aus dem Krankenhaus entlassen, sieht er sich von seinem Boss gefeuert und ohne Wohnung dastehen, lernt aber den Strassenhändler Canaille kennen. Der lebt mit sechs Freunden – sie tragen ihre Eigenschaften, verbunden mit sprechenden Namen, wie einen Bauchladen vor sich her – unter einer Schrotthalde in einer Höhle. Sie gleicht jener von Ali Baba aus Tausendundeiner Nacht. «Schneewittchen und die sieben Zwerge» kommt einem auch in den Sinn, Jeunet selbst verweist auf John Lasseters Figuren aus Toy Story, in der jede eine ganz besondere Gabe oder Fähigkeit besitze. Doch noch faszinierender als die märchenhaften Bezüge ist der magisch-realistische Kosmos, den der Regisseur in der Grotte aus Metall entwirft, eine Welt aus Fundstücken und Ersatzteilen, die von ihrer eigentlichen Bestimmung abgekoppelt wurden und nun zu etwas Neuem zusammengesetzt werden. Man weiss gar nicht, wo man zuerst hinschauen soll, und muss aufpassen, dass einem nichts entgeht. Kleinigkeiten zumeist, wie zum Beispiel der eiserne Gewichtheber, winzige Automaten und kauzige Roboter. Die Verspieltheit der Apparaturen zeugt von einer obsessiven Technikverliebtheit, von einem Basteltrieb, der wiederum Voraussetzung ist für die nun folgenden Inszenierungen.

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Die Handlung nimmt nämlich eine neue Wendung und lässt sich, wenn man so will, als Paraphrase auf Kurosawas Yojimbo und Leones Per un pugno di dollari lesen. Bazil, genauso naiv, unschuldig und gut wie Amélie, hat mit den beiden Waffenhändlern, die für den Tod seines Vaters und die Kugel in seinem Kopf verantwortlich sind, nämlich noch eine Rechnung zu begleichen. Man kann die Kritik an der Waffenlobby, die natürlich auch eine Friedensbotschaft mit einschliesst, aufgesetzt und naiv finden, zumal die authentisch recherchierten Hintergründe und Dialoge nicht so recht ins phantastische Universum von Jeunet zu passen scheinen. Wie dem auch sei: Gemeinsam mit seinen neuen Freunden, die der Regisseur als «verrückte Rächer» bezeichnet, spielt Bazil die beiden Männer im feinen Zwirn in der Rififi-Manier von «Mission impossible», der berühmten Fernsehserie der sechziger Jahre, gegeneinander aus – mit Inszenierungscoups, die auch auf die Illusionsmaschine Kino verweisen.

Jeunets Ideenfabrik arbeitet wieder auf Hochtouren, und zuweilen reibt man sich verwundert die Augen. Mit der Aufforderung «Verjagt das Naturalistische» wird der Regisseur in den Produktionsnotizen zitiert, und so taucht der japanische Kameramann Tetsuo Nagata, der für Bruno Delbonnel, der wegen einer Verpflichtung für – ausgerechnet – eine Harry-Potter-Verfilmung nicht zur Verfügung stand, auch hier die Bilder in ein kräftiges, warmes und sehr ästhetisiertes Gelb, das bereits das Paris von Le fabuleux destin d‘amélie poulain als magischen Ort auswies. Auch hier ist alles möglich. Und sei es, dass Dominique Pinon, einer von Jeunets Lieblingsdarstellern, sich als lebende Kanonenkugel zur Verfügung stellt. Diese Verachtung physischer Realität geht auf die Zeichentrickfilme der Warner Brothers zurück. Wohl darum ist auch einmal ein Ausschnitt aus einem Cartoon von Tex Avery zu sehen.

Was den Film allerdings vom Zauber, dem Charme und der Poesie von Le fabuleux destin d‘amélie poulain unterscheidet, ist die Kühle und Präzision, vielleicht sogar Distanz, mit der Jean-Pierre Jeunet hier sein gut geöltes Ideenkarussell kreisen lässt. Der Film verweist zu sehr auf sich selbst (einmal sind sogar Filmplakate von Micmacs à tire-larigot zu sehen), gibt sich zu selbstbewusst, stellt zu viele Bezüge her (von Charlie Chaplin über Jacques Prévert bis Marcel Carné), ist nicht aus einem Guss. «Seht her, was uns alles eingefallen ist!» scheint uns der Regisseur zurufen zu wollen. Je mehr der Zuschauer versucht, die vielen Fundstücke festzuhalten, desto mehr entgleitet ihm das grosse Ganze.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2010 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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