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Ajami 05

Ajami

In Ajami, einem ärmlichen Viertel von Tel Aviv, in dem arabische und jüdische Israelis, Christen und Muslime dicht nebeneinander leben, hängt eine ständige Anspannung in der Luft. Im rauen Alltag von fünf unterschiedlichen jungen Männern droht eine unkontrollierbare Gewalt, den letzten Hoffnungsschimmer zu erlöschen. – roh und unmittelbar.

Text: Bettina Spoerri / 28. Juli 2010

Eine Wucht ist dieser Film, der einen mit einer schier unerträglichen Authentizität überfällt. Ajami, benannt nach einem ärmeren Viertel in Jaffa, jenem Stadtteil in Tel Aviv, wo arabische und jüdische Israelis, Christen und Muslime, dicht nebeneinander leben, zeigt eine erbarmungslose Welt, in der die Hoffnung junger Menschen auf eine bessere Zukunft oft in weniger als einer Sekunde brutal zunichte gemacht wird. In dem eindrücklichen Gemeinschaftswerk des Palästinensers Scandar Copti und des Israeli Yaron Shani besteht die Existenz vieler Menschen in einem ständigen Überlebenskampf und oft auswegslosen Dilemmata. Die fünf in Ajami ineinander verflochtenen Geschichten müssen nicht wie in Iñárritus Babel um den ganzen Erdball gespannt sein, um die Tragweite und Gnadenlosigkeit indirekter Schuldverstrickungen und fataler Koinzidenzen aufzuzeigen. Sie sind eindringlich und verstörend in den direkten, schonungslosen Bildern, in denen sie von Copti und Shani präsentiert werden.

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Der Anfang in diesem Film könnte auch sein Ende sein. Mehrere Aktionsspiralen drehen sich in Ajami nebeneinander, in unterschiedlichen Rhythmen, immer wieder von neuem in eine wachsende Spannung, bis jeweils eine zur Unzeit aufplatzt und ihren Schaden anrichtet. Manchmal hängt alles von der Interpretation einer Situation und der Geistesgegenwärtigkeit der Beteiligten ab. Eine Taschenuhr ist es beispielsweise, bis dahin von scheinbar unwesentlicher Bedeutung in einer der Handlungsstränge dieses Films, die in einem bestimmten, äusserst prekären Moment einen Mann seine Nerven verlieren lässt – mit für mehrere Anwesende tödlichen Konsequenzen. Ein andermal ist es die traurige Verquickung unvereinbarer Interessen oder schlicht unglückliches Timing, das etwa die Erledigung eines kleinen Freundschaftsdienstes unvermittelt zur Frage von Leben oder Tod macht. Dass am Ende fast jede Geschichte in diesem Film ihre schlimmstmögliche Wendung nimmt, mobilisiert allerdings bei der Betrachtenden einen gewissen Fatalismus oder eine zunehmende Abwehrhaltung, denn zu erstickend wird in den ganzen zwei Stunden – in denen viele sterben, die einem nahe gekommen sind – das Verglimmen der letzten Hoffnungsschimmer. Dieser Film verweigert sich, und das ist in diesem Falle durchaus konsequent, dem Trost einer “ausgewogenen” dramaturgischen Anlage, in der eine tragische mit einer leichten Geschichte in Balance gehalten werden könnte.

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In Ajami kreuzen sich die Wege von fünf Männern, darunter vor allem auch Jugendliche und junge Erwachsene: Omar, Nasri, Dando, Binj und Malek. Nasris älterer Bruder Omar gerät in die Schusslinie eines mächtigen palästinensischen Clans, nachdem der Onkel eines ihrer Mitglieder angeschossen hat. Die Familie versucht sich loszukaufen, doch bald gerät die Lage völlig ausser Kontrolle. Um Geld aufzutreiben und eine Möglichkeit zu finden, mit der von ihm geliebten Tochter seines Chefs zusammenzukommen, rutscht Omar schnell in immer zwielichtigere Kreise, betätigt sich an illegalen Geschäften und beginnt mit Drogen zu dealen. Auf diesem Weg lernt er den palästinensischen Jungen Malek kennen, der heimlich die Grenze vom Westjordanland in Richtung Tel Aviv überquert hat, um hier mit Schwarzarbeit Geld für die Operation seiner kranken Mutter zu verdienen. Und sie beide begegnen Binj, einem rund dreissigjährigen arabischen Israeli aus Jaffa, der von einer Zukunft mit seiner jüdischen Freundin träumt. Ihre Geschichten wiederum werden immer untrennbarer vom Schicksal Dandos, eines israelischen Polizisten jüdisch-sephardischer Herkunft, dessen jüngerer Bruder während seiner Militärdienstzeit im Westjordanland spurlos verschwindet. Der dreizehnjährige Nasri ist dabei am Anfang noch derjenige, der beobachtet und in Zeichnungen dokumentiert, was sich um ihn herum abspielt – doch bald kann auch er keine unschuldige Position mehr einnehmen und wird zu einer der Schachfiguren im grausamen, fatalen Karussell.

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Die beinahe rohe Unmittelbarkeit und so packende Realistik der Szenen in dem Spielfilm ist insofern auch wirklich “echt”, als sämtliche Rollen von Laien – die meisten von ihnen aus vergleichbaren sozialen Hintergründen – gespielt wurden. Sie erhielten von den Regisseuren für die von ihnen dargestellten Figuren kein Script – wenn auch ein solches sehr wohl ausgearbeitet worden war –, sondern sollten allein nach evozierten Konfliktsituationen und Stimmungen improvisieren. In einem zehnmonatigen Workshop, den einmal rund dreihundert Teilnehmende begannen, bildete sich in einem langen Prozess ein fester Kern von Darstellerinnen und Darstellern, bis Copti und Shani schliesslich nach fast einem Jahr mit dem Drehen begannen. Das Resultat ist, wie Scandar Copti beschreibt, ein Spielfilm, in dem «reale» Menschen «reale» Emotionen in «realen» Situationen spielen, obwohl sie beim Dreh vor den Kameras nicht wussten, dass sie sich nach dem genauen Plan eines Drehbuchs verhielten.

Ajami schenkt dem Betrachter ebenso wenig wie seinen Protagonisten. Die rohe Gewalt schlägt ohne Vorwarnung, in schockierender Plötzlichkeit, zu. Wer sich hier aus einer schwierigen Lage herauszustrampeln versucht, verheddert sich meist nur noch heilloser in dem tödlichen Netz, das sich um ihn herum zuzieht. Das letzte und fünfte der Kapitel, in die der Film eingeteilt ist, entwirrt die letzten ausgelegten Fäden – und wirft neue Fragen auf. Ein Film, der sich dagegen wehrt, zu einem Abschluss zu kommen. Die Gewaltspiralen in der Wirklichkeit haben sich derweil schon immer weiter gedreht.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2010 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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