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Goodnight Nobody

Text: Doris Senn / 12. Jan. 2011

Was für ein Filmerlebnis! Goodnight Nobody, das Langfilmdebüt der Zürcher Regisseurin Jacqueline Zünd, ist dem Phänomen Schlaflosigkeit gewidmet – und porträtiert dabei vier Menschen, vier Geschichten und vier Kontinente. Und wie sie das tut! Ebenso konsequent wie bestechend setzt sie auf wohlkomponierte Bilder und Töne, auf Stille und Musik, auf Erzählung und Fragment und kreiert daraus ein äusserst anregendes Filmexperiment.

Im Zentrum von Goodnight Nobody stehen vier Figuren, die eines gemeinsam haben: Sie alle können nicht schlafen. Das sind Jérémie in Ouagadougou, der in einem Kabäuschen – seinem «Ghetto» – haust, Tag und Nacht einen verstimmten Musikrecorder laufen lässt, während er ein kleines Freilufttheater bewacht und nachts sein eigenes «Stück» mit den herumstreunenden Katzen «inszeniert». Oder Fedir, der 63-jährige Rentner in der Ukraine, der in einer Kolchose arbeitete, nach eigenen Angaben seit zwanzig Jahren kein Auge mehr zugetan hat und als «Mister Schlaflos» immer wieder ins Rampenlicht der Medien im In- und Ausland geriet. Oder Mila, die – in schwarz-punkigem Tenü – mit ihrem Auto im Dunkeln durch die verwaisten Vorstädte und die Kaktuslandschaft Arizonas kurvt, «das Einzige, das gegen die Rastlosigkeit hilft». Und schliesslich Lin Yao in Shanghai, die als Krankenschwester arbeitet und deren Schlaflosigkeit aus einer traumatisierten Kindheit und der konfliktreichen Beziehung ihrer Eltern herrührt. Sie alle und ihre Umgebung porträtiert der Film in atmosphärischen Bildern, eingebettet in einen stimmigen Sound, der einzig durchbrochen wird von den Erzählungen der Protagonisten und Protagonistinnen aus dem Off.

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Ganz und gar schlaflos … Wie ist das möglich – wenn überhaupt? Das lässt der Film offen – wie auch medizinische Informationen igendwelcher Art zum Phänomen Insomnie oder zu den hier beschriebenen “Fallstudien”. Dafür lässt Goodnight Nobody uns eintauchen in eine Welt aus Nacht und Traum, aus Nord und Süd, Ost und West, aus Natur und Urbanität – in Bilder, durchtränkt von Dunkel und Nebel, von Einsamkeit und erdrückender Stille. Er lässt uns teilhaben an den Ritualen dieser Ruhelosen, die jede und jeder für sich einen Umgang finden (müssen) mit dem Überschuss an Zeit, der ihnen zur Verfügung steht, mit dem Alleinsein oder den Geräuschen in der Stille, die mitunter bedrohlich gross werden. goodnight nobody lässt uns aber nicht nur Anteil nehmen an diesen ganz speziellen Biografien, sondern auch ins Sinnieren geraten darüber, was Zeit ausmacht, was Begrenztheit und Unbegrenztheit von Leben oder über den für uns Normalsterbliche so selbstverständlichen Wechsel von Schlafen und Wachen – darüber, was wäre, wenn wir damit konfrontiert wären, Zeit totschlagen zu müssen, wenn wir uns nicht regelmässig für Stunden aus der Realität ausklinken könnten …

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Seine Figuren verknüpft Goodnight Nobody in einer virtuosen Montage – oder wie anders soll man diesen immer wieder überraschenden und spannungsreichen Wechsel der Erzählstränge beschreiben, der manchmal in synkopenhaften Abfolgen statischer Bilder, manchmal epischen Aufnahmen aus dem fahrenden Auto mal die eine, mal die andere der vier Persönlichkeiten ins Zentrum stellt? Die Cutter Natali Barry und Marcel Ramsay finden einen perfekt getimten Rhythmus für die symbolhaften Locations von Nikolai von Graevenitz und Lorenz Merz und ihre sorgfältig komponierten Bilder, welche die Schattierungen der Nacht, aber auch des Lichts zeigen. So die teils schummrigen, teils gleissenden Lichtpunkte und -streifen, die den Kontrast zur Nacht drumherum noch zu verstärken scheinen: das gelbe Licht der Strassenlampen in der sanderfüllten Luft in Ouagadougou etwa, die Wolkenkratzer in Shanghai, in denen Lichter an- und ausgehen wie in einem riesigen Adventskalender. Oder der warme Lichtkegel, den Milas Auto in der verlassenen Landschaft vor sich her schiebt, bevor das Gefährt gänzlich vom Dunkel verschluckt wird.

Goodnight Nobody ist ein perfekt kalibriertes kleines Meisterwerk, das die Filmemacherin als «inszenierten Dokumentarfilm» («theatrical documentary») bezeichnet und damit auf die gestaltenden Elemente des Films verweist, mit der die authentischen Geschichten erzählt werden, um sie in ihrer Faszination noch zu verstärken. Jacqueline Zünd versteht es, ein ungewöhnliches Thema – das die Regisseurin aus ihrer eigenen Kindheit kennt, als sich die Familie immer wieder mit der Schlaflosigkeit der Mutter konfrontiert sah – wunderbar visuell-auditiv umzusetzen. Das unterstreicht auch der eindrückliche Palmarès, den der Erstlingsfilm der Filmemacherin bislang verzeichnet – sei es mit dem Preis als beste Newcomerin der Visions du Réel in Nyon, dem Zürcher Filmpreis oder einer «Honorary Mention» am Dokfilmfestival in Leipzig. Fortsetzung folgt.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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