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Songs of love 05

Songs of Love and Hate

Text: Stefan Volk / 12. Jan. 2011

Sie sind das Schreckgespenst der Erwachsenen: rücksichtslose Jugendliche; masslos, hemmungslos, kopflos, vernünftigen Argumenten verschlossen. Fast hat man vergessen, dass man auch selbst einmal durch diese Lebensphase musste und durfte, durch diese Pubertät, die alles vergrössert: die Träume, die Ängste, die Sehnsüchte, die Lust, die Liebe und den Hass auf die anderen und auf sich selbst, weil man nicht mehr weiss, wer man eben noch war oder schon geworden ist. Weil man wie zwanghaft getrieben wird, weg von denen, die man liebt, und von dort, wo man sich geborgen fühlt, hinein ins Ungewisse.

Liest man das Presseheft und erinnert sich an ihren sensibel inszenierten Erstling, das Coming-of-Age-Roadmovie Mutanten, scheint die Sache klar: Katalin Gödrös erzählt in Songs of Love and Hate erneut vom Abenteuer und Drama des Erwachsenwerdens. Der einem Leonard-Cohen-Album entliehene Filmtitel liefert die passende Überschrift über jene Zeit unkontrollierter Gefühlsschwankungen und der Extreme, in der sich Lilli befindet. Mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester Roberta lebt sie in einem idyllischen Winzerhof am Fuss der Schweizer Alpen. Die Landschaft, die Kameramann Henner Besuch immer wieder in geduldigen Panoramaeinstellungen einfängt, wirkt schön und gewaltig zugleich. Bedrohliche Klänge aus dem Off betonen ihre düstere, melancholische Seite. Dunkle Wolken, wie von Caspar David Friedrich gemalt, ziehen über den Weinbergen auf. Häufig regnet es, und ein kleines Flüsschen verwandelt sich in einen reissenden Strom.

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Vor diesem symbolträchtigen Setting durchlebt Lilli die Tücken der Adoleszenz, eine erste Liebelei mit dem schüchternen Fabio, einem netten Jungen, der seine Finger aber nicht von dem schönen Mädchen lassen kann und ihr damit auf die Nerven geht. Männer zwinkern Lilli zu und üben einen seltsamen widersprüchlichen Reiz auf sie aus. Und auch zuhause ist nichts mehr wie es war. Mit Roberta spielt und scherzt Lillis Vater Rico wie eh und je, aber gegenüber Lilli geht er auf Distanz. Die Frau, zu der seine Tochter heranwächst, macht ihm Angst, weil sie ihn gleichzeitig anzieht. Ausgesprochen wird das freilich nicht. In dem herbstdunklen Hof dominiert das Schweigen. Ricos unwirsche, abweisende Art spricht jedoch Bände. Einmal steht Lilli nackt im Badezimmer, und Prinz, Ricos geliebter Hofhund, kläfft sie wütend an. «Papa!», ruft das Mädchen, «ich weiss auch nicht, was mit ihm los ist.» Als Rico in der Tür steht, starrt er wortlos auf seine nackte Tochter. Fast vorwurfsvoll wirkt das. Dann packt er den Hund, zerrt ihn nach draussen, bindet ihn an die Hundehütte. Der Hund jault, aber Rico schweigt noch immer. Es bietet sich an, den Hund hier als Ricos Alter ego zu interpretieren. Dazu passt auch, dass Rico kurz darauf heimlich beobachtet, wie Lilli den Hunddraussen krault und streichelt. Bei dem Anblick lächelt er glücklich, doch dann sieht er, dass Lilli einen Stock in der Hand hält. Sein Lächeln verschwindet, als sie das Stöckchen in den reissenden Fluss wirft und der Hund hinterherspringt und von den Wassermassen verschluckt wird. Erst jetzt entdeckt Lilli ihren Vater. Zuhause berichtet Rico von dem Unfall, verschweigt aber Lillis Schuld. Das Geheimnis, das Vater und Tochter nun miteinander teilen, entfremdet sie noch mehr voneinander. Man kann es auch als Chiffre für ein inzestuöses Begehren lesen.

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Deutet man Songs of Love and Hate also irgendwo zwischen psychologisch und psychoanalytisch als einfühlsame Studie des Heranwachsens, fügt sich auch die Erzählform darein, die in langen, lauernden Totalen das Geschehen wie ein distanzierter Beobachter zu observieren scheint. Diese zurückhaltende, fast karge Erzählweise, die mit spärlichen Dialogen und praktisch ohne musikalische Untermalung auskommt, erinnert an die nüchternen Perspektiven der «Berliner Schule». Doch anders als dort entlarven die unerbittlichen, reglosen Einstellungen hinter der gestörten Kommunikation keine Gefühlskälte, keine bildungsbürgerliche Starre oder individualistische Bindungsschwäche. Bei Gödrös herrscht vielmehr eher ein Zuviel an Leben, Emotionen und Sinnlichkeit. Es gärt und brodelt unter dem Schweigen der Bilder und Menschen. Chaos und Exzess lassen sich nur mit Mühe und letztlich nur scheinbar in geregelte Bahnen lenken. Die Ausbrüche, in denen Lilli ihre Aggressionen gegen andere richtet, steigern sich im Laufe des Films immer mehr. Es beginnt mit einer Nacktschnecke, über die sie Salz streut. Einem Nachbarn bricht sie die Nase. Dann schickt sie Prinz ins Wasser und damit in den Tod. Auch danach dreht sich die Gewaltspirale noch weiter. Und genau da setzten viele Rezensenten mit ihrer Kritik an. Zurecht, wenn man Songs of Love and Hate ausschliesslich als poetisch-realistisches Adoleszenzdrama versteht, als symbolisch unterfütterte, letztlich aber authentische, glaubhafte Geschichte. Dann wirken die plötzlichen Gewaltausbrüche Lillis tatsächlich etwas dick aufgetragen, und sie führen zu weit, weil sie sich der Identifikation mit der Protagonistin in den Weg stellen. Das Exemplarische schwappt ins Spekulative, Sensationsträchtige, ins Genrekino über.

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Bei einer erweiterten Lesart macht aber gerade das den besonderen, faszinierenden Reiz von Gödrös’ Film aus. Schon in Mutanten spielte die in Zürich geborene Regisseurin auf leichte, ungezwungene Weise mit dem Genrekino. Songs of Love and Hate lässt sich nun parallel zum Coming-of-Age-Drama durchaus auch als Horrorfilm deuten. In Lilli steckt auch die mythische Lilith, die Legenden zufolge Adams erste Frau gewesen sein soll, ehe er sie aufgrund ihrer sexuellen Dominanz verstiess und sie sich in einen Dämon oder sogar in die Schlange im Paradies verwandelte. Symbolisch gewendet wiederholt sich dieser Mythos, wenn Rico seine heranwachsende Tochter verstösst, weil sie ihm zu weiblich wird, und sie daraufhin anderen Gewalt antut. In der Genrelogik aber ist Lilith eine vom Teufel Besessene, ein weiblicher Daimon, und hinter dem schönen Gesicht, dem scheinbar aufrichtig anteilnehmenden Weinen, verbirgt sich ein gefühlloser, skrupelloser Teufel, der sich stets nur dann zeigt, wenn keiner hinschaut. Auch das Horrorkino verhandelt sexuelle Ängste, verknotet Lust mit Gewalt, aber nicht auf symbolische, sondern allenfalls (unbewusst) metaphorische Weise. Die Jugendlichen verhalten sich nicht nur wie Monster, sondern verwandeln sich in solche. Auch so kann man Songs of Love and Hate also sehen: als einen mit den formalen Mitteln der «Berliner Schule erzählten Satansstreifen. Ein wenig irritieren mag da das offene, unspektakuläre, fast lakonische Ende.

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Wahrscheinlich aber wird man dem ebenso eindringlich wie undurchsichtig, also grossartig gespielten Film auch nicht gerecht, wenn man ihn auf Arthouse-Horror reduziert. Ebenso wenig aber sollte man ihn vorschnell in ein psychologisches Raster pressen. Songs of Love and Hate changiert auf ganz eigentümliche Weise zwischen den Stilen und Themen und erzeugt so an den vielen Bruchstellen, die sich bilden, egal von welcher Seite man sich ihm nähert, einen vielschichtigen, breiten Assoziationsraum, der die Grenze zwischen naturalistischer und cineastischer Wirklichkeit leichthin überschreitet. In einer Art filmischer Unschärferelation entzieht sich Songs of Love and Hate dem Zugriff des Betrachters immer dann, wenn dieser ihn festzulegen versucht. Findet man sich aber damit ab, dass der Film vom Genre und von der Wirklichkeit zugleich erzählt, Lilli also vom Teufel besessen und ein ganz normales Mädchen ist, was theoretisch ja gar nicht geht, dann lässt sich dieses kleine, seltene Kinowunder erst so richtig geniessen.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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