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Melancholia 06

Melancholia

Text: Stefan Volk / 02. Nov. 2011

Sechzehn Jahre ist es mittlerweile her, dass der dänische Filmemacher Lars von Trier sich beim Filmen eine strenge Zurückhaltung auferlegte. Sein neuestes Werk, Melancholia, beginnt nun mit einem gebündelten Verstoss gegen das, nie ganz ernst gemeinte, Keuschheitsgelübde, das die «Dogma 95»Gemeinde damals ablegte. Gleich im ersten Bild sieht man Kirsten Dunst in Grosseinstellung und Superzeitlupe, die Augen halb geschlossen, die Haare in Strähnen. Unscharf im Hintergrund fallen zu den schmerzensreich schönen Wagnerklängen aus der Ouvertüre von «Tristan und Isolde» die Vögel vom Himmel. Endzeitstimmung. Der Grundton für die nächsten gut zwei Stunden ist mit diesem Memento Mori gelegt. Von Trier dreht seinen Film gleichsam aus der Perspektive des Todes heraus, im Wissen um die unausweichliche Katastrophe, auf die im Grossen wie im Kleinen beinahe alles in Melancholia zusteuert.

Doch ehe Mensch und Welt aus den Fugen geraten, hält von Trier erst einmal die Zeit an und tut etwas, was er im Verlaufe des Filmes häufig tun wird: er sagt dasselbe noch mal, aber in anderen Bildern. Man sieht Kirsten Dunst im Brautkleid, den Brautstrauss in der Hand, wie aufgebahrt zwischen Seerosen treiben. Oder einen Rasen überqueren und bei jedem Schritt tief im Boden versinken. Oder sie zieht, noch immer ganz in Weiss gekleidet, dunkle Bänder, die sie am Fortkommen hindern, hinter sich her. Ein Bild, das kaum zufällig an jene berühmte Szene aus Luis Buñuels Un chien andalou erinnert, in der ein Mann an ähnlichen Stricken ein Klavier hinter sich her schleppt. Nebenbei bemerkt: Buñuels Stummfilm hatte in etwa dieselbe Länge wie von Triers viertelstündiger surrealistischer Prolog, und als der spanische Regisseur 1929 bei der Pariser Premiere seines Filmes selbst das Grammophon bediente, legte er unter anderem «Tristan und Isolde» auf.

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Wie bei Buñuel richtet sich bei von Trier der Blick nach oben, in den Himmel. Allerdings nicht auf den Mond, sondern auf einen Planeten mit dem vielsagenden Namen «Melancholia», der auf die Erde zurast. Neben der Schwermut, die sich in dem Sinnbilderreigen des “Vorfilms” ausdrückt, gibt es darin noch ein zweites, gegenläufiges Motiv, in dem sich die befreiende Kraft manifestiert, die für die von Kirsten Dunst verkörperte Frau von dem nahenden Aufprall ausgeht. Etwa, wenn sie sich die Hände vors Gesicht hält und fasziniert beobachtet, wie Lichtblitze aus ihren Fingerspitzen sprühen.

Zu sehen sind die visuell überwältigenden Aufnahmen in einer extremen Superzeitlupe, wie sie von Trier zuletzt auch in §Antichrist verwendete. Anders aber als bei jenem verstörenden, existenziellen Horrortrip sind sie in Melancholia nicht in den Handlungsablauf integriert, sondern werden fein säuberlich ausgelagert. Die dialektische Struktur, die sich in diesem Prolog noch assoziativ niederschlägt, bestimmt anschliessend den Aufbau des Films. Auf die Negation des Lebens, die Verzweiflung an der Menschheit, um die es, wie Kirsten Dunst später im Film sagen wird, «nicht schade» sei, folgt die Erlösung durch den grossen Kollaps, den Weltuntergang.

Der mit «Justine» überschriebene erste Teil des eigentlichen Handlungsgeschehens beginnt mit einer kleinen, heiteren Szene, in der ein Brautpaar auf einem gewundenen Zufahrtsweg feststeckt, weil der Chauffeur mit der überlangen Stretchlimousine nicht um die Kurven kommt. Justine, so heisst die von Dunst gespielte junge Braut, und Michael, der Bräutigam, müssen lächeln angesichts dieses Missgeschicks. Dennoch nimmt es das Scheitern ihrer Hochzeitsfeier vorweg, die, so plakativ funktioniert die Metaphorik des Films, unter keinem guten Stern steht.

Eine auffällig wacklige Handkamera dokumentiert dann die Zyklen des Zerfalls dieser Festveranstaltung auf dem schlossartigen Anwesen von Justines Schwager. Im Grunde legt Lars von Trier damit Thomas Vinterbergs Festen neu auf. Über die Studie der Depression hinaus, die Justine im Würgegriff hält, zeichnet er ein Sittengemälde einer heuchlerischen und gefühlskalten (Fest-)Gesellschaft, an der man verzweifeln muss. Aus den Erfahrungen seiner eigenen Depressionen heraus erklärt sich der Regisseur solidarisch mit seiner Heldin, indem er deren desillusionierte Weltsicht weitgehend übernimmt.

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Nach der verspäteten Ankunft des Brautpaares sorgt die Rede des Brautvaters für den nächsten Eklat. Anstatt über seine Tochter zu sprechen, lästert er über deren Mutter. Zu Justine, die seine Worte sichtlich betreten und mit gequältem Lächeln über sich ergehen lässt, fällt ihm nichts Unpassenderes ein als die Standardformel, so glücklich habe er sie noch nie gesehen. Weiter könnten Wort und Bild kaum auseinanderklaffen. Immer wieder ergreift Justine im Laufe des Abends die Flucht. Als alle darauf warten, dass sie die Hochzeitstorte anschneidet, legt sie sich in die Badewanne, und anstatt mit ihrem frisch angetrauten Gemahl zu tanzen, bringt sie lieber ihren kleinen Neffen ins Bett. Weil keiner begreift, wie unglücklich es sie macht, dass alle von ihr erwarten, glücklich zu sein, ist die Eskalation unvermeidlich. Aber war es wirklich nötig, diese darin ihren Ausdruck finden zu lassen, dass Justine es noch im Hochzeitskleid auf dem hauseigenen Golfplatz mit dem Praktikanten ihres Chefs treibt?

Der zweite Teil des (Haupt-)Films ist ein wenig irreführend mit «Claire», dem Namen von Justines Schwester, überschrieben, obwohl auch hier Justine die Hauptfigur bleibt. Nach der gescheiterten Hochzeit befindet sie sich in einem völlig apathischen Zustand und muss für ein paar Anspielungen auf Idioterne herhalten. Etwa, wenn sie nackt gutturale Laute ausstösst, während Claire versucht, sie in die Wanne zu hieven, oder wenn sie sich unter den angewiderten Blicken ihres Schwagers mit den Fingern Marmelade in den Mund schaufelt. Je mehr sich «Melancholia» aber der Erde nähert, desto wohler scheint sich Justine zu fühlen.

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Für die sich nun anbahnende Katastrophe findet von Trier grossartige Bilder. Bedrohlich taucht der todbringende Planet immer wieder und immer näher am Horizont auf. Es ist eine Ironie des Castings, dass auch der «24»Weltenretter Kiefer Sutherland angesichts dieses globalen Countdowns machtlos bleibt. Doch trotz der düsteren Zukunftsvision, die Melancholia entfaltet, wird daraus keine Science-Fiction. Der Film inszeniert keine Krisenstäbe, keine Massenpaniken, stattdessen beschränkt er sich kammerspielartig auf Justine, Claire, deren Mann und den gemeinsamen Sohn.

Melancholia ist prominent besetztes, hervorragend gespieltes Schauspielkino. Gewürzt mit prächtigen Bildern und schwelgerischer Musik. Die Bausteine für grosses Kino sind alle da. Die Architektur, in der sie arrangiert werden, wirkt schlüssig, wohlüberlegt. Und genau darin schlummert das Problem dieses hochambitionierten Filmwerkes. Während antichrist streckenweise chaotisch schien, wild und verquer, wie im rauschhaften Wahn auf die Leinwand geschmiert, bleibt in Melancholia alles wohlgeordnet und kontrolliert. Dadurch aber verliert der Film seinen inneren Zusammenhalt, seine Seele, fällt auseinander. Was bleibt ist ein verkopftes, aufgeblähtes Kinokonstrukt, das, trotz grandioser Momente, unterm Strich misslingt.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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