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Eine ruhige jacke 01

Eine Ruhige Jacke

Text: Lara Sascha Bleuler / 07. Dez. 2011

Der sechsundzwanzigjährige Roman hält – er ist im Wald am Holzen – ein Stück Baumrinde in der Hand, er schaut sich die Textur ganz genau an, taucht sie dann ins Wasser. Was auffällt, ist seine kindliche, fast zärtliche Konzentration, mit der er einzelne Bewegungen macht, seine Stirn ist leicht gerunzelt, als ob ihm diese Vorgänge grosse gedankliche Anstrengungen abverlangte. Roman ist autistisch, er spricht nicht, versteht aber seine Mitmenschen sehr wohl und kann sich mit einer alphabetisierten Sprachtafel selber ausdrücken.

Autisten können sich schlecht dem Willen anderer Menschen unterordnen, sie wollen immer selber entscheiden, in diesem Sinne sind sie äusserst «moderne Menschen», erklärt Xaver, der Betreuer von Roman, mit einem liebevollen Schmunzeln.

Der Filmemacher Ramòn Giger interessierte sich für die feinen Schattierungen in den zwischenmenschlichen Beziehungen, die für Roman, der sich oft in die Isolation flüchtet, überhaupt möglich sind. Kennengelernt hatte er seinen fast gleichaltrigen Protagonisten während seines Zivildienstes, den er auf einem Bauernhof in Roderis, einer Arbeits- und Wohngemeinschaft für Menschen mit autistischen Merkmalen, absolviert hat. Ziel seiner Filmarbeit war eine unvoreingenommene Annäherung an Roman, der ihn gleich zu Beginn der Dreharbeiten bittet, ihn als «totalen Menschen» zu zeigen. Eine grosse Herausforderung für einen noch unerfahrenen Dokumentarfilmer, doch Giger gelingt es tatsächlich, das Vertrauen von Roman zu gewinnen und sein Wesen mit tastenden Schritten erfahrbar zu machen. Die Kamera, die Giger selbst führt, wird zur Komplizin, und das ambitionierte Sounddesign von Benjamin Kilchhofer bildet einen Klangteppich, der Romans Wahnehmung suggestiv untermalt, ohne sie mit Bedeutung aufzuladen.

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Eine heikle Gratwanderung, die über weiter Strecken gelingt und den Zuschauer in eine unvoreingenommene Beobachterrolle eintauchen lässt – einzig ein dramaturgischer Kniff, der gar früh einen Schicksalsschlag für Roman vorwegnimmt, scheint etwas übermotiviert und reisst den Zuschauer aus der sonst poetischen Langsamkeit des Films heraus.

Roman geniesst die ständige Aufmerksamkeit, die ihm Giger und sein Team widmen, des öftern inszeniert er sich bewusst selber und geniesst es zu unterhalten, beispielsweise wenn er den Abwasch in eine künstlerische Performance umfunktioniert: er baut mit dem Geschirr ein Türmchen, trommelt mit dem Kochlöffel rhythmisch auf den Tellern rum und grinst dazu immer wieder stolz in die Kamera. Herrlich befreiend auch Romans kreativer Humor, wenn er alleine in seinem Zimmer den Staubsauger zum Musikinstrument umfunktioniert und eine kuriose Maske vor die Linse hält. Roman findet auch selber Gefallen an der Filmarbeit, er kriegt eine eigene DV-Kamera, mit der er seiner eigenen Wahrnehmung eine Sprache gibt. Die schaukelnden Bewegungen seines Körpers, die Geräuschkulisse seines Atmens, Schnaubens und Jauchzens versehen seine Bilder mit einer eigenen Poesie.

Romans Aufnahmen, sein «Schnitt in der Kamera» werden im Film so belassen, wie sie entstanden sind, so dass der Zu
schauer gezwungen ist, sich wirklich mit dessen Sicht auseinanderzusetzen, ohne sie aber genauer definieren und interpretieren zu können. Romans Gestik und Mimik sind mit den gängigen Kommunikationsrastern ohnehin schwer zu deuten, aber gerade die Unmöglichkeit, das Gesehene klar ordnen und kontrollieren zu können, erlaubt mitunter auch dem Zuschauer, mit einem freien, naiven Blick die Ereignisse und Roman zu beobachten und sich von einer fremden Welt mit eigenen Regeln verführen zu lassen.

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Ein Glücksfall für den Film ist die Beziehung von Roman zu seinem Betreuer Xaver. Dieser bringt ihm in einer eigens entwickelten Arbeitsgruppe «Wald» den Umgang mit der Motorsäge bei. Kein leichtes Unterfangen, zumal sich Roman immer wieder dazu hinreissen lässt, beim Sägen zuviel Gas zu geben. In den allwöchentlichen Gesprächen mittels Alphabets-Tastatur versucht Xaver mit Engelsgeduld Roman beizubringen, dass dessen sonst äusserst sensibles Fingerspitzengefühl, mit dem er beispielsweise ein Haar von einem Pullover nimmt und es mit seinen Lippen befühlt, eben auch bei der Arbeit mit der Säge gefragt ist. Roman verteidigt seine Freude am Gasgeben und antwortet überraschend einsichtig und reflektiert. Xaver sieht sich auch später noch mehrmals mit Romans Sturheit konfrontiert, gegen die selbst er machtlos ist. Roman hält sich in solchen Momenten die Ohren zu, gibt wimmernde Töne von sich und rennt wild gestikulierend davon. Auch Xaver muss Romans Vertrauen immer wieder neu gewinnen und tut dies mit einer sensiblen Mischung aus Strenge und Zärtlichkeit, die immer wieder Romans Innnerstes zu erreichen scheint. Wie intensiv und wichtig diese Nähe zu Xaver war wird deutlich, als dieser plötzlich an einem Herzversagen stirbt und Roman sich mit einer bedrohlich neuen Realität konfrontiert sieht. Als er von der Therapeutin gefragt wird, ob er Xaver noch etwas mitgeben wolle, antwortet er nach kurzem Überlegen: «Viel Erlösungskraft!» Seine Stirn legt sich dazu in Falten, und er sieht plötzlich gealtert und von geheimnisvoller Weisheit durchdrungen aus. Seine sorgfältige, reflektierte Wortwahl in diesen Gesprächen zeugt von einer sensiblen Intelligenz, die sich nach Austausch und Zweisamkeit sehnt. Als er vorschlägt, gegen emotionale Dünnhäutigkeit eine «ruhige Jacke» anzuziehen, läuft einem das Herz über ob solch treffender Bildkraft für einen emotionalen Zustand, mit dem wir uns alle nur zu gut identifizieren können.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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