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Tete en friche 01

La tête en friche

Glücklich darf sich eine Filmnation schätzen, die so verschwenderisch mit ihren Talenten umgehen kann. Das französische Kino verfügt offenbar über genug Ressourcen, um gar nicht erst in die Verlegenheit zu geraten, sie alle ausschöpfen zu müssen. Eine der gefeierten Neuentdeckungen des vergangenen Filmjahres ist Gisèle Casadesus.

Text: Claude Miller / 13. Apr. 2011

Glücklich darf sich eine Filmnation schätzen, die so verschwenderisch mit ihren Talenten umgehen kann. Das französische Kino verfügt offenbar über genug Ressourcen, um gar nicht erst in die Verlegenheit zu geraten, sie alle ausschöpfen zu müssen. Eine der gefeierten Neuentdeckungen des vergangenen Filmjahres ist eine Veteranin von 95 Jahren, die zwar schon seit 1934 vor der Kamera steht, aber bislang wenig Aufsehen erregte: Gisèle Casadesus. Filmrollen hat sie sporadisch und nur dann angenommen, wenn es ihr einige Jahrzehnte dauerndes Engagement an der Comédie française zuliess; im Lauf der Zeit sind dabei freilich dann doch über 70 herausgekommen.

Aber erst jetzt hat ein Regisseur ihr Potential für eine Hauptrolle entdeckt. Gern stellt man sich vor, dass seine einzige Regieanweisung lautete: «Seien Sie einfach nur zauberhaft!» Nun kann sie die filmische Gnade der frühen Geburt reichlich auskosten; allein 2010 hat sie vier Filme gedreht. Mithin beglaubigt allein schon ihre Karriere die Botschaft von La tête en friche, dass es für einen Neuanfang nie zu spät ist. Überaus vornehm spielt Casadesus die pensionierte Akademikerin Margueritte, die im Park den ungeschlachten Hilfsarbeiter Germain kennenlernt und ihn die Liebe zur Literatur lehrt. Er ist ein schlichtes Gemüt, von der Mutter ungewollt und allem Anschein nach auch ungeliebt, von Lehrern und Schulkameraden verspottet.

Ob ein solch gefrässiger Schauspieler wie Gérard Depardieu wohl wirklich noch alle Rollen auseinanderhalten kann, die er sich einverleibt hat? Die Figuren, die er beispielsweise in Mammuth und nun in La tête en friche verkörpert, könnten in der Erinnerung rasch verschmelzen. Er spielt jeweils ein verschubstes, ungebildetes Faktotum aus der Charente, das sich leicht übervorteilen lässt, den Zumutungen des Lebens aber dank einer lebenstüchtigen Frau an seiner Seite nicht ganz hilflos ausgeliefert ist.

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Dem Zuschauer mag es da schon leichter fallen, die falschen Zwillinge voneinander zu trennen. Visuell gibt sich Mammuth als ein Film von ausgesucht grobkörniger Hässlichkeit, während La tête en friche in jener hellen, weichgezeichneten Beschaulichkeit leuchtet, die aus den letzten Filmen Jean Beckers wohlvertraut ist. In Mammuth geht es, wie stets bei Benoît Delépine & Gustave Kervern, darum, das Leben zur Rechenschaft zu ziehen. Bei Jean Becker hingegen darf man sich mit ihm aussöhnen. Und Einfalt ist in seinen Filmen keine Schande, solange sie mit der rechten Herzensbildung einhergeht. Ein Mensch, der die Tauben im Park nicht nur füttert, sondern ihnen auch liebevoll Kosenamen gibt, wird schon eine empfindsame Seele besitzen. Die Lektüre bereitet ihm anfangs zwar erhebliches Kopfzerbrechen, bald jedoch verändert die charmant und kundig geweckte Bücherliebe seine Sicht auf die Welt.

Das Schicksal meint es in der Regel gut mit Beckers Figuren. Auch diesmal spielt es hübsch mit. Gewiss, die platonische Liebe des geläuterten Einfaltspinsels und der eleganten Greisin hat kleine Hindernisse zu überwinden. Germains blutjunge Freundin ist patent genug, um ihre Eifersucht zu überwinden. Selbst seine Mutter wird nachträglich nobilitiert, als ihr Testament eine verborgene Fürsorglichkeit offenbart. Es geniert Becker, dass Filme gemeinhin nicht auf einen Konflikt verzichten können. Seine schönste Sorge gilt der Harmonie. Und die lässt sich am ehesten in der Provinz herstellen. Unbeirrt feiert er den ehrenhaften Hedonismus und die Besinnlichkeit des Landlebens. Auch das multikulturelle Miteinander funktioniert in seiner Provinzidylle weit besser als in der Stadt. Becker ist einer der erfolgreichsten Gegenwartsregisseure Frankreichs. Einen Zeitgenossen mag man ihn schwerlich nennen.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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