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Messies 03

Messies, ein schönes Chaos

Was ist normal, was ist krankhaft? Schmal ist der Grat zwischen Hingabe und Wahnsinn. Grossenbachers Respekt vor seinen «Messies», sein Sinn für Dramaturgie und für visuelle Poesie führen zu Szenen voller Situationskomik und Skurrilität, ohne dass unser Lachen auf Kosten der Protagonisten geht.

Text: Thomas Schärer / 27. Juli 2011

Etwa zwei Prozent der Schweizer Bevölkerung gelten als krankhafte «Messies». Sie sammeln so extensiv und kompromisslos, dass ihr Verhalten sie isoliert. Sie werden ihren Mitmenschen zur Last oder verkriechen sich in den eigenen vier Wände – sofern da noch Platz ist. Nicht nur in Boulevardmedien werden jeweils besonders abstruse Fälle vorgeführt: als Beleidigung jeglichen Empfindens für Ordnung und Mass in der aufgeräumten Schweiz.

Der Berner Filmschaffende Ulrich Grossenbacher wählte einen anderen Weg. Neugierig begegnet er vier Menschen, die mit ihrem «Puff» auf unterschiedliche Weise umgehen.

Arthur, ein lediger Bauer, bewohnt sein Heimetli anders als seine Nachbarn. Keine Geranien schmücken seinen Grund, sondern ungezähltes schweres Gerät: Traktoren, Bagger, Autos und Lastwagen. Er bauert, zumindest mäht er, hält Hühner in einem alten Camper, doch seine Passion gilt seinen verrostenden Gefährten, die er wieder zum Leben erweckt oder umbaut. Die Gemeinde versucht seit Jahren, ihn zum “Aufräumen” zu bewegen. Doch Arthur besitzt sein Land: Der Kampf zwischen Eigentum und Zonenkonformität führt bis vor Bundesgericht.

Elmira muss in ihrer Mietwohnung äusserste Gelenkigkeit an den Tag legen. Meterhoch türmen sich die zu überquerenden Zeitungs- und Kassettenstapel, keine Kultursendung des Südwestfunks darf unaufgezeichnet bleiben. Zimmer und Küche platzen aus allen Nähten. Ist das Treppenhaus “rein”, schleppt sie zentnerweise Material in den Estrich. Seit zehn Jahren tauscht sie sich in einer Therapiegruppe aus, ihr Zustand habe sich bereits wesentlich gebessert, auch wenn das noch nicht sichtbar sei.

Messies 08

Karl und Trudi bewohnen ein grosses Bauernhaus. Einer der letzten passierbaren Räume ist die Küche. Trudi beklagt das verlorene Sozialleben, nicht mal mehr die eigenen Kinder besuchen sie. Trudi stellt ihrem Mann ein Ultimatum. Entweder schafft er Platz für sie oder sie zieht aus. Sie holt sich psychologische Hilfe. Als sie erfährt, dass Karl hinter ihrem Rücken zwei grosse Scheunen gemietet und randvoll gefüllt hat, fällt sie einen Entscheid.

Der Tüftler Thomas baut aus Schrott sinnige Apparate, etwa einen Pflanzenwuchs-Visualisierungs-Projektor. Seine Werkstatt ist so übervoll wie seine Pläne.

Grossenbacher scheut zwar keine Drastik der Anschauung, etwa wenn er in einem langsamen Schwenk genüsslich die Dimension eines Chaos enthüllt oder wenn er seine Protagonisten für ihre Gänge durch ihre archäologischen Ablagerungsschichten mit einer Minikamera behängt. Die präzis gesetzte Musik unterstützt mitunter den ironisierenden Blick.

Es ist aber das Interesse an seinen Protagonisten, an ihrem Erleben, ihrer Kreativität, ihren Verdrängungsstrategien und ihrer Erklärung des eigenen Tuns, das ihn leitet. Hinter Verschrobenheiten zeigen sich komplexe Charaktere. Sie präsentieren sich nicht vornehmlich als Kranke, sondern als Menschen mit einem überschäumenden Interesse an allem. Sie konfrontieren uns mit Fragen: Was ist normal, was ist krankhaft? Schmal ist der Grat zwischen Hingabe und Wahnsinn. Grossenbachers Respekt vor seinen «Messies», sein Sinn für Dramaturgie und für visuelle Poesie führen zu Szenen voller Situationskomik und Skurrilität, ohne dass unser Lachen auf Kosten der Protagonisten geht.

Messies 04

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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