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Sira – wenn der Halbmond spricht

Der Film Sira begleitet Sayyed el-Dawwy aus Südägypten, der als einziger lebender Interpret noch in der Lage ist, die «Sira el-Hilaliyya» mit ihren geschätzten fünf Millionen Versen vollständig vorzutragen. Er lässt der Musik und den Versen ihren Raum, schlägt aber auch Brücken zu übergreifenderen Themen. Poesie und handfester Alltag finden zusammen. Ein Dokumentarfilm im besten Sinn.

Text: Sandra Schweizer Csillany / 27. Juli 2011

«Sinnlose Worte singe ich nicht», sagt Sayyed el-Dawwy. Denn der Worte, die Sinn machen, gibt es für den Meister der «Sira el-Hilaliyya» weit mehr als genug. Der achtzigjährige Mann aus Qus in Südägypten ist als einziger lebender Interpret noch in der Lage, dieses Werk mit seinen geschätzten fünf Millionen Versen vollständig vorzutragen. Das gewaltige arabische Epos ist sein ganzes Leben. Nur er hält die Geschichten rund um das Volk des Halbmondes, der Bani Hilal, am Leben. Sein Enkel Ramadan el-Dawwy soll nun in seine Fussstapfen treten, um das kulturelle Erbe in der Familie und in der arabischen Welt zu halten. Ramadan ist aber noch meilenweit davon entfernt, das gesamte Werk zu kennen. Und weit entfernt ist er auch vom Selbstbewusstsein seines Grossvaters. Während dieser nach einem Auftritt auf die Frage eines Journalisten, ob er denn auch etwas anderes als die Sira singen könne, «ich kann alles singen» in dessen Mikrofon zischt, bleibt Ramadan demütig. Er werde einen Teil der Sira bei der nächsten Hochzeit vortragen. So Gott wolle.

In Sira – wenn der Halbmond spricht begleiten Sandra Gysi und Ahmed Abdel Mohsen Grossvater und Enkel el-Dawwy im täglichen Leben und zu ihren Auftritten, mit denen sie ihren Lebensunterhalt verdienen: Grossvater Sayyed interpretiert die Verse, Ramadan ist einer seiner Begleitmusiker.

Der alte el-Dawwy macht sich nun daran, Ramadan alle Verse der Sira zu diktieren. Um sich die Verse besser einprägen zu können, notiert sie Ramadan in ein Heft. Doch eigentlich sollte er sich nicht zu sehr auf seine Notizen verlassen, ist der Grossvater überzeugt. Nur was im Kopf und im Herzen vorhanden ist, sei wirklich da. Sayyed selber kann weder lesen noch schreiben. Seit Jahrhunderten wurden die Verse von Mund zu Mund weitergegeben, er hat sie sich auf die von Generationen erprobte Weise verinnerlicht.

In der Sira geht es um die Abenteuer des Volkes der Bani Hilal und dessen Helden Abu Said. Im elften Jahrhundert soll das Volk von der Arabischen Halbinsel in Richtung Nord-afrika gezogen sein. «Die Bevölkerung Südägyptens stammt von diesem Volk ab», glaubt Abdel Rahman el-Abnoudy, ein bekannter arabischer Dichter, der sich seit Jahrzehnten mit der Sira beschäftigt und im Film das Gezeigte erläutert. «Deswegen ist das Interesse für diese Geschichten hier auch so gross.» Das Epos konnte unter anderem auch deswegen seine Bedeutung über die Zeiten behalten, weil es immer wieder neu erfunden und interpretiert wurde. Sayyed el-Dawwy sagt: «Ich beginne immer mit religiösen Versen, dann spreche ich über Alltagsprobleme, bis die Leute vor Ehrfurcht schweigen, und erst dann beginne ich mit der Sira.» Sira-Darbietungen sind also nicht nur Historie, Poesie und Musik, sondern auch Botschaft

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In seiner Familie und in seinem Dorf ist der Sira-Meister Patriarch und Respektsperson. Den Enkel schickt er Waschpulver einkaufen, beim Friseur gibt er Anekdoten zum Besten («Mein Vater hatte Augen wie von Gott geschminkt»), und auf die Aufforderung seines Enkels, seinem Urenkel etwas Geld zu geben, damit sie zum Spielplatz gehen könnten, reagiert er gar nicht erst, sondern scheucht die beiden mit einem «ich gehe beten, entschuldigt mich» weg.

Aber der junge Ramadan macht sich seine eigenen Gedanken. Er lebt in einem Ägypten, das nicht mehr nur der Tradition folgt, sondern in dem sich in Kairo Touristinnen mit blossen Armen tummeln, in dem Barack Obama im Fernsehen zu sehen ist und wo im Internet ein Mohammed Mounir mit seiner Version von Versen aus der Sira zu hören ist. Ramadan ist davon begeistert: Mounir singe von Yunis und Aziz und «ihrer Geschichte voller Liebe». Sein Grossvater hingegen singe am liebsten von Kriegen, Schlachten und dem grossen Helden Abu Said. Während Ramadan von mehr Liebe und Pop in den Sira-Interpretationen träumt, sucht sein Grossvater nach den grossen Helden in der ägyptischen Geschichte. Nasser sei der letzte von ihnen gewesen. Er fragt sich und andere, ob es noch einmal einen wie ihn geben könnte. Obama vielleicht, glaubt er. Der habe die richtige Hautfarbe und sei ausserdem bestimmt Moslem. Der Film dokumentiert also nicht nur ein Stück Kulturgeschichte, sondern zeichnet auch eine Welt zwischen Tradition und Fortschritt.

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Am diesjährigen Filmfestival in Innsbruck wurde Sira – wenn der halbmond spricht als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet. Die Jury befand, es sei ihr nicht schwer gefallen, diese Entscheidung zu treffen, die Qualität des Films spreche für sich. Die Kameraführung sei diskret und präzis und halte immer einen respektvollen Abstand zu den Protagonisten. Die Zuschauer würden mit spielerischer Leichtigkeit durch den Film geführt. Das ist richtig. Die Kamera, geführt von Peter Liechti und den Regisseuren, hält darüber hinaus aber auch die Balance zwischen Bewegung und Innehalten. Trotz vieler Aufnahmen mit der Handkamera bleibt der Film ruhig, die Montage unauffällig. Immer wieder findet er seine Bilder am Rand der Schauplätze. So führt er uns etwa vom auf der Bühne stehenden Sayyed weg und blickt auf ekstatisch zu den Sira-Versen tanzende Männer. Der Film lässt der Musik und den Versen ihren Raum, schlägt aber auch unauffällig und elegant eine Brücke zu übergreifenderen Themen. Poesie und handfester Alltag finden zusammen. Ein Dokumentarfilm im besten Sinn.

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Nicht ganz einsichtig mag sein, wieso ein Abdel Rahman el-Abnoudy, ein Yousry el-Guindy oder ein Mohammad Hozayn in eingestreuten Statements zu Wort kommen – sie werden weder eingeführt noch vorgestellt –, doch mit Sayyed und Ramadan hat Sira – wenn der halbmond spricht eigentliche Protagonisten-Asse im Ärmel. Und mit Ramadan sogar einen kleinen Helden. Vielleicht nicht einer wie Abu Said. Aber einer mit Mut. Denn er versucht etwas Neues, indem er sich darauf einlässt, den Musikern seines Grossvaters die Sira-Versionen von Mounir vorzuspielen, auch wenn die fast augenblicklich sehr aufgebracht reagieren. Ramadan ist ausserdem in der Lage zu analysieren. Er spürt die Suche seines Umfeldes nach neuen Helden: «Das ägyptische Volk braucht immer einen Anführer. Es ist daran gewöhnt, einen Führer zu haben. (…) Es kann nie von sich aus etwas gemeinsam tun. Sie haben Angst um ihre Kinder, verstehst du mich?» Und er wagt es, dem Patriarchen die Stirn zu bieten. Während des Ramadans raucht der junge el-Dawwy tagsüber während einer Busfahrt über Land. Die Stunde des Fastenbrechens ist noch weit, aber Ramadan hat eine Zigarette zwischen den Lippen. Im Westen hätte diese Geste nichts Revolutionäres an sich, in der Wüste Ägyptens mit einem Grossvater im Auto, der religiöse Vorschriften ernst nimmt und dem es beim Vortragen der Sira auch darum geht, moralische Überlieferungen festzuhalten, umso mehr. Für Ramadan gibt es neben der Sira noch anderes: «Ich will, dass mein Sohn einen Hochschulabschluss macht. Ich habe nur die Grundschule besucht. (…) Zuerst soll er lernen, dann kommt die Sira. Zuerst Ausbildung, Kultivierung, eine eigene Meinung (…), dann kann er selber entscheiden.»

Am Ende brilliert Ramadan vor einem begeisterten Publikum mit seiner Interpretation der Geschichte von Yunis und Aziz. Sollte er es auch nicht schaffen, sich die fünf Millionen Sira-Verse einzuprägen: Vielleicht vermag er es ja trotzdem, der Sira eine neue Zukunft zu geben. Seine eigenen Fussstapfen hinterlässt er jedenfalls bereits.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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