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Margin call 03

Margin Call

Kühl, nüchtern und scharfsinnig analysiert Chandor den Weg in die Finanzkatastrophe. Auf knapp zwei Tage und ein halbes Dutzend Räume verdichtet, changiert Margin Call zwischen Kammerspiel und Thriller. Von Meeting zu Meeting spitzt sich die Lage zu, werden Wortwahl und Mimik dramatischer.

Text: Stefan Volk / 21. Sep. 2011

«Fuck normal people!» Wütend bügelt der abgebrühte, dauerkaugummikauende Investmentbanker Will Emerson die Bedenken des Neulings ab, der neben ihm im Wagen sitzt. Die normalen Leute würden doch alle leben wollen wie Könige; mit schönen Autos, eigenen Häusern. Aber woher das Geld dafür käme, würden sie nicht wissen wollen, lieber weiter die Unschuldigen spielen. Heuchler seien sie allesamt, also: scheiss drauf!

Solche Rechtfertigungsreden bekommt man in Margin Call noch oft zu hören. Zwischen den mit bedrohlichem Sound und düsteren Mienen in apokalyptische Atmosphäre getauchten Krisensitzungen versuchen sich die Banker in Moralphilosophie. Wir schreiben das Jahr 2008, Wallstreet am Vorabend des Finanzcrashes. Offensichtlich spekuliert US-Regisseur J. C. Chandor darauf, dass alle wissen, was danach geschehen wird: die Pleiten, die Zwangsversteigerungen, Existenzängste. In seinem Spielfilmdebüt nämlich kommt nichts davon vor. Die “normalen” Menschen tauchen nur in Zitaten und in einer kurzen, plakativen Szene auf, in der zwei Vorstandsmitglieder der Bank im Aufzug über den Kopf einer Putzfrau hinweg diskutieren; ganz so als wäre sie Luft.

Ansonsten aber bleibt die “wirkliche” Welt aussen vor. Chandor, der auch das Drehbuch verfasste, lässt sein Kinopublikum Mäuschen spielen in einem Paralleluniversum aus flimmernden Monitoren, polierten Glas und Chromfronten, Massanzügen und Luxuskarosserien. Gleich zu Beginn setzt er die unerbittliche Personalpolitik in Szene, die in diesen stahlgrauen Palästen praktiziert wird. 80 Prozent der Belegschaft wird gekündigt. Auch der verdiente Risikoanalyst Eric Dale wird brüsk vor die Tür gesetzt. Auf dem Weg nach draussen übergibt er seinem Protegé, dem Nachwuchsbanker Peter Sullivan, einen Speicherstick, der angeblich brisante Daten enthält.

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Nach Feierabend wirft Sullivan einen Blick darauf und findet heraus, dass die Bank aufgrund falscher Berechnungen Tausende praktisch wertlose Papiere hält, deren Verlust die Bank ruinieren würde. Sullivan alarmiert seinen Vorgesetzten. Und noch in derselben Nacht fliegt die Konzernführung mit dem Hubschrauber ein.

In den folgenden Beratungen verkörpern der selbstgefällige Konzernchef John Tuld und der seriöse Chef-Händler Sam Rogers die Bandbreite moralischer Haltungen in der Führungsriege. Zu Gegenspielern aber entwickeln sie sich deswegen nicht. Chandor sucht keinen Bösewicht, den er verantwortlich machen kann. Statt der Schuld stellt der Sohn eines Investmentbankers lieber die Systemfrage. Ob es richtig sei, was sie tun, fragt Sullivan, worauf Rogers mit einer Gegenfrage antwortet: «Für wen?» Es herrscht Ratlosigkeit in den Chefetagen. Die Bank versucht, sich zu retten, und stürzt damit die Welt in eine Krise. Und auch, wenn es einigen schwerer fällt als anderen, machen am Ende doch alle irgendwie mit.

Kühl, nüchtern und scharfsinnig analysiert Chandor den Weg in die Finanzkatastrophe. Auf knapp zwei Tage und ein halbes Dutzend Räume verdichtet, changiert Margin Call zwischen Kammerspiel und Thriller. Von Meeting zu Meeting spitzt sich die Lage zu, werden Wortwahl und Mimik dramatischer. Das bleibt spannend, obwohl man weiss, wie es ausgeht. Aufwühlend ist es nie. Trotz Starbesetzung und engagierten Darstellungen hält der Film seine Akteure stets auf Distanz. Die Menschen hinter den Funktionen bleiben schemenhaft. Auch dass Sam Rogers über seinen sterbenden Hund trauert, hilft da nicht weiter. Weil sich Chandor aber anders als einst Oliver Stone in Wall Street nicht für persönliche Schicksale interessiert, präsentiert sich das, was wohl als aufrüttelndes Krisendrama gedacht war, am Ende beinahe als cooles Abenteuer.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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