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Great Expectations

Mit Mike Newells neuer Version von «Great Expectations» findet das ausgehende Dickens-Jahr einen leidlich würdigen Abschluss. Aus der Sicht konservativ gestimmter Produzenten und Kinogänger ist Mike Newell als Regisseur zweifellos eine Idealbesetzung. Sein geschmeidiges Regietemperament ist bislang noch keiner Vorlage ernsthaft in die Quere gekommen.

Text: Gerhard Midding / 05. Dez. 2012

Das Richtmass einer gut erzählten Geschichte ist die Menge weiterer Geschichten, die hinter ihr sichtbar werden. Vor einigen Wochen erschien in Grossbritannien ein Roman, der von einer jungen Frau erzählt, die hartnäckig an das Gute in sich und ihren Mitmenschen glaubt. Sie ist die verwöhnte, gleichwohl idealistische Tochter eines Brauereibesitzers aus Kent, deren Zukunft zu den schönsten Hoffnungen berechtigt – bis zu dem Tag, an dem ihr eine so tiefe, verletzende Kränkung beigebracht wird, dass sie den Rest ihres Lebens in Verbitterung zubringen wird. Das Buch des Schriftstellers Ronald Frame, das von verlorener Jugend und zerstörten Träumen handelt, trägt einen Titel, der aufmerksame Leser augenblicklich aufhorchen lässt: «Havisham».

Der Romancier erzählt die, nein: eine Vorgeschichte zu Charles Dickens’ «Great Expectations». Zunächst geht er von dem aus, was Pip, der Ich-Erzähler, von der Frau zu berichten weiss, die seine eigene Existenz vergiften wird. Sodann füllt er die Lücken aus seiner eigenen Phantasie. Die angloamerikanische Literatur kennt einige Werke, die derart als Ableger oder Fortschreibung konzipiert sind und eine Nebenfigur zum Protagonisten erheben: etwa Jean Rhys’ «Wide Sargasso Sea», in dessen Zentrum die erste Ehefrau von Rochester aus «Jane Eyre» steht. Es ist eine sinnfällige, ertragreiche Entscheidung Frames, den Blickwinkel von Miss Havisham zu wählen: In ihm spiegelt sich Dickens’ Empörung darüber, wie bedroht eine junge Seele sein kann. Mit gleichem Recht kann man sich indes zahlreiche weitere Prequels oder Sequels zu Dickens’ Roman vorstellen, in denen Orlick, Estella, Herbert Pocket oder gar der einfache Schmied Joe Gargery die Hauptrolle innehaben. Über Magwitch erfährt man vielleicht schon bei Dickens genug. Aber wie spannend müsste es sein, all die Geheimnisse zu enthüllen, die der Anwalt Jaggers noch für sich behält!

Für George Orwell bestand das grösste Problem von Dickens darin, dass er nicht wusste, wann er aufhören sollte. Seine Vorstellungskraft überwältige den Leser, wachse wie ein unausrottbares Kraut über seine ereignisreichen Erzählungen. Diese Fülle an Situationen und Charakteren erscheint dem normalen Leser natürlich als eine Tugend, als Garantie auf Zufriedenheit. Er hat einerseits das Gefühl, die Geschichten würden in all ihren Verästelungen auserzählt. Zugleich eröffnet der Schriftsteller seiner Phantasie grosszügige Freiräume. Es nimmt nicht wunder, dass sich unter den Lesern der letzten hundertzwanzig Jahre so viele Filmproduzenten und Regisseure befanden. Dickens ist der erste (bereits 1897 entstand eine Fassung von «Oliver Twist», die kaum eine Minute dauerte) und zugleich meistverfilmte Romanschriftsteller überhaupt. Auf seine Stoffe gehen angeblich rund 400 Kino- und TV-Adaptionen zurück. Das sind mehr Verfilmungen, als die Werke von Alexandre Dumas, Sir Arthur Conan Doyle und Anton Cechov hervorgebracht haben.

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Mit Mike Newells neuer Version von «Great Expectations» findet das ausgehende Dickens-Jahr einen leidlich würdigen Abschluss. Eingeleitet wurde die kinematographische Feier seines zweihundertsten Geburtstages mit einer mehrteiligen Adaption des Romans durch die BBC, die Fernsehzuschauer und Kritiker nach der Ausstrahlung allerdings enttäuscht zurückliess. Retrospektiven in London und Zürich würdigten Dickens als einzigartigen Stofflieferanten für das Kino. In einer Zeit, in der das britische Kino sich mit Inbrunst auf literarische Klassiker des 19. Jahrhunderts besinnt – man denke an die Neufassungen von «Jane Eyre», «Wuthering Heights» und «Anna Karenina» –, soll indes nur «Great Expectations» den Beweis von Dickens’ Aktualität (und Attraktivität) für ein heutiges Publikum antreten. Der Bildungsroman um den Waisenjungen aus dem Marschland, der dank einer geheimnisvollen Erbschaft zum Gentleman in London wird, ist mit gut zwanzig Verfilmungen (darunter jüngst eine Bollywood-Version) ohnehin der Dauerbrenner unter den Dickens-Stoffen.

Aus der Sicht konservativ gestimmter Produzenten und Kinogänger ist Mike Newell als Regisseur zweifellos eine Idealbesetzung. Sein geschmeidiges Regietemperament ist bislang noch keiner Vorlage ernsthaft in die Quere gekommen. Seine Filme sind nie besser als ihre Drehbücher; Schande macht er ihnen hingegen nur selten. Newell verkörpert die heroische Gediegenheit. Tatsächlich kann er sich einer staunenswerten Bandbreite von Stoffen, Epochen und Genres anverwandeln. Seine Filmografie misst das Spektrum zwischen dem Grafen von Monte Cristo und Harry Potter aus, er hat sich an Gruselfilmen versucht und Erfolge gefeiert auf dem Terrain der romantic comedy. Er hat ein Händchen für Kostümfilme. Und wenn er sich amerikanischen Sujets zuwendet, tut er es mit einem nur minimalen britischen Vorbehalt. Das Mafia-Drama Donnie Brasco zeigt, in welche filmischen Höhen er sich emporwagen kann, wenn er sich mit einem grossartigen Szenaristen wie Paul Attanasio und Darstellern wie Al Pacino und Johnny Depp einlässt. Gäbe es das Studiosystem Hollywoods noch, wäre er wohl der am häufigsten beschäftigte Regisseur der Gegenwart. Das ist er ohnehin schon fast: ein Clarence Brown des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts.

Mithin ist Newell der Gewährsmann für eine respektvolle Annäherung an Dickens. Eine entschlossene Revision seiner Weltsicht stellt er nicht in Aussicht; allzu sehr entzücken ihn die Steilvorlagen für das atmosphärische Erzählen und die Figurenzeichnung, die dessen Prosa gibt. Die Neuinterpretation eines Klassikers ist für diesen Regisseur eine Frage der Nuancen, der sachten Verschiebungen. Mit David Leans epochaler Verfilmung von «Great Expectations» aus dem Jahr 1946 will und muss er sich nicht messen. Die ist zwar die beste, aber keineswegs definitive Version: Dickens lässt noch viel Handlungsspielraum, den sie nicht abdeckt.

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Der Drehbuchautor David Nicholls ist Newell ein gewissenhafter Komplize. Mit seinem auch verfilmten Roman «One Day» hat er bewiesen, dass er einfühlsam schildern kann, was die Zeit an einer unerfüllten Liebe anrichten kann. Auch mit der Epoche ist er vertraut; spätestens seit der Adaption von Thomas Hardys «Tess of the d’Urbervilles», die er vor einigen Jahren fürs britische Fernsehen gestaltete. Er versteht es hauszuhalten mit der Stofffülle von Dickens’ Roman. Er weiss, dass man keine Scheu vor haarsträubenden Zufällen und Wendungen des Geschicks haben darf, wenn man diesen Schriftsteller adaptiert. Man spürt, wie schmerzlich es für ihn gewesen sein muss, Erzählstränge und Figuren zu opfern. Er hat weit mehr als nur das Gerüst der Handlung erhalten. Wann immer es möglich war, hat er Dickens’ Dialoge übernommen.

So gewinnen dessen Figuren und die Chronik ihres Schicksals auf der Leinwand ein schönes, lebendiges Relief. Jaggers, dem Robbie Coltrane robuste Ambivalenz verleiht, bekommt mehr Raum als je zuvor im Kino; in seiner Person laufen alle Handlungsstränge zusammen. Helena Bonham-Carters Studie von Miss Havisham weicht radikal von früheren Interpretationen ab. Sie bricht deren Verbitterung auf, lässt sie zugänglicher, menschlicher erscheinen. Sie flirtet mit dem jungen Pip, verliert dabei aber nie den Hinterhalt von Hartherzigkeit aus dem Blick: Ins Leben kann auch sie nicht zurückkehren. Kompromittiert wird diese interpretatorische Verve freilich durch Jeremy Irvine, den etwas tumb wirkenden Darsteller des älteren Pip. An ihm droht die Parabel auf trügerische soziale Mobilität zu scheitern. Als vergnügt-haltloser Dandy und schmachtend Verliebter mag er mit seinem Dreitagebart noch einigermassen durchgehen. Auf Pips «schwarze Undankbarkeit», auf die Scham über seine einfache Herkunft, kann er sich nicht einlassen. So bleibt von Dickens’ Pathologie der britischen Klassengesellschaft vor allem ihr paradox behaglicher Aspekt übrig. Aber der hat das Kino ja stets am meisten interessiert.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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