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We need to talk 01

We Need To Talk About Kevin

Es ist die Apokalypse des Mutterglücks. Das Neugeborene schreit und schreit, vor allem dann, wenn Mama es hält. Die ausgepumpte Eva stellt sich mit dem Kinderwagen mitten auf die Strasse, neben einen Presslufthammer, um das Geplärre zu übertönen. Es gibt nichts Schmerzhafteres als Tilda Swintons verkrampftes Lächeln, wenn sie das weinende Baby mit beiden Armen in die Luft stemmt – wie gerne würde sie es schütteln und weiss doch, dass sie das nicht darf.

Text: Michael Pfister / 02. Mär. 2012

Es ist die Apokalypse des Mutterglücks. Das Neugeborene schreit und schreit, vor allem dann, wenn Mama es hält. Die ausgepumpte Eva stellt sich mit dem Kinderwagen mitten auf die Strasse, neben einen Presslufthammer, um das Geplärre zu übertönen. Es gibt nichts Schmerzhafteres als Tilda Swintons verkrampftes Lächeln, wenn sie das weinende Baby mit beiden Armen in die Luft stemmt – wie gerne würde sie es schütteln und weiss doch, dass sie das nicht darf. Dann die Verweigerungen: Kevin spricht kaum, spielt nicht, will und will nicht trocken werden. Und wenn er doch einmal den roten Ball zurückrollt, ist die fistelstimmige Freude der Mutter nur mehr geheuchelt. Als der Siebenjährige aus purem Trotz in die frischen Windeln macht, wirft sie ihn zu Boden und bricht ihm so den Arm. Der Zuschauer stellt sich die alte Anlage-Umwelt-Frage: Ist das Kind böse geboren und lässt der Mutter keine Chance? Oder ist die Mutter unfähig, ihren Sohn zu lieben, und damit verantwortlich für dessen kalte Widerspenstigkeit?

Dass eine Antwort auf diese Frage in weiter Ferne bleibt, liegt vor allem daran, dass sich der dritte Spielfilm der schottischen Regisseurin Lynne Ramsay, der auf dem gleich betitelten Bestseller der US-amerikanischen Autorin Lionel Shriver basiert, zu wenig Zeit nimmt für die Anfänge dieser Mutter-Kind-Beziehung. Dabei würden wir die Gefühlspalette, die uns Tilda Swinton – wenig überraschend Herzstück und Glanzlicht dieses finsteren Werks – vorführt, gerne geruhsamer geniessen: unterdrückter Hass, ungläubiges Staunen, bemühtes Werben, ratlose Angst … Stattdessen erleben wir ein hektisches Wechselbad von Bruchstücken und Bildfetzen. Erinnerungen der Reiseschriftstellerin Eva Khatchadourian an die Zeit vor der Ehe – wie sie sich ekstatisch durch den roten Saft des Tomatina-Festivals im spanischen Buñol treiben lässt; Familienszenen mit roter Konfitüre auf dem Glastisch und Pfeilschussübungen im Garten; Momentaufnahmen aus einer späteren Phase, als sie allein in einem mit roter Farbe verunstalteten Häuschen lebt und anderen Kundinnen ausweicht, indem sie sich vor ein Gestell mit roten Tomatensuppendosen stellt; und immer wieder vor Entsetzen schreiende Menschen, Polizei, Krankenwagen – es wird bald klar, dass der böse Bub zu einem sogenannten Amokläufer geworden ist, sprich: ein (rotes!) Blutbad angerichtet hat.

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Als Chronik eines angekündigten Schulmassakers ist der Film zu plakativ und zu eindimensional. Wer sich für die Hintergründe solcher Katastrophen interessiert, wird sich besser an Michael Moores Bowling For Columbine halten. Doch auch als Thriller ist We Need To Talk About Kevin zu durchschaubar und zu reisserisch: Dass das Meerschweinchen in der Müllhäckselmaschine endet, ist wohl unausweichlich. Aber muss der Bösewicht, nachdem er der kleinen Schwester «aus Versehen» ein Auge ausgeschossen hat, genüsslich eine Litschi zerbeissen? Das Erbe von Horrorfilmen wie The Exorcist, The Omen oder Orphan ist unübersehbar: Dass die christliche Kultur, die ihren Gott als nacktes, unschuldiges Kind in einer Krippe anbetet, auch die Antithese dazu entwickelt hat, überrascht nicht. Schon im 12. Jahrhundert wurde in einem Mosaik der Basilika auf der Insel Torcello bei Venedig der Antichrist auf dem Schoss Satans als Kind dargestellt: Hüte dich vor falscher Unschuld! Sie könnte eine Maske des Bösen sein. In der Tat erinnert Kevin als Baby, vor allem aber als Siebenjähriger an den dämonischen Damien aus The Omen. Und wie Swinton in einem Interview sagte: «Welche Mutter hat nicht einmal die Phantasie, sie habe den Teufel geboren?»

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Andererseits hat der Samen Satans, und das weiss der Film sehr wohl, als Erklärung für das Böse heute an Überzeugungskraft verloren. Was macht denn dieses Teufelskind unserer Zeit so niederträchtig? Dass es alles immer schon weiss, aber nichts davon herausrückt. Sein abgeklärter, abgebrühter, unendlich cooler Nihilismus, aus dem heraus es die Eltern manipuliert: «There is no point. That’s the point», spottet der Teenager Kevin, der aussieht wie die dunkle Ausgabe von Tadzio aus Viscontis Morte a Venezia. Verzweifelt bettelt die Mutter um ein wenig spontane Kindlichkeit, um “echte” Gefühle, doch je länger, desto deutlicher gibt ihr Kevin zu verstehen, dass diese Gefühle ohnehin immer nur “gemacht” seien. Ja, als seine Mutter bei einer Partie Minigolf über Fettleibige herzieht, bemerkt er knapp: «Du kannst ganz schön harsch sein. Von wem ich das wohl habe?» Die Ähnlichkeit zwischen Mutter und Sohn ist eine der Stärken des Films und sehr bewusst inszeniert.

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Ein unsympathischer Film, denn er ist genauso kalt, schön, dämonisch, künstlich und abgeklärt wie das böse Kind, das er uns präsentiert. Indem er seine durchästhetisierte Geschichte aufsplittert und den Zuschauer die Bruchstücke wie ein Puzzle zusammensetzen lässt, verfügt er über sein Publikum genauso von oben herab wie Kevin über seine Eltern. Die eindrücklich inszenierten grellen Bilder und die überraschend und betörend aus altchinesischer Lautenmusik und schottischem oder amerikanischem Folk geschöpften Stücke des Soundtracks sind wie die Teigkügelchen, die Kevin während eines Abendessens mit der Mutter aus Weissbrot formt. Gnadenlose, kleine Bomben. «Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch», schrieb Hölderlin. Und Ramsay ist klug genug, um gegen das heutige Böse nicht mit veralteten Moralkeulen, sondern mit dessen eigenen Waffen zu kämpfen. Ihr Film ist eine eisige Parabel auf die blasierte Gesellschaft des Spektakels, die schon alles kennt und vergeblich nach Überschreitungen giert. Nach seinem Massaker verbeugt sich der junge Dämon lächelnd wie ein Showstar, und er weiss genau: Dieser Kevin ist nicht allein zuhause, er ist in uns allen zuhause.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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