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Abrir puertas y ventanas

In ihrem Erstlingsfilm zeichnet Milagros Mumenthaler den Mikrokosmos von drei jungen Frauen, luftig und bedrückend zugleich. Bald zeigt sich, dass trotz dem scheinbar ereignislosen Einerlei eigentlich Ausnahmezustand herrscht und die drei sich wie in einem Vakuum – der Zeit, des Lebens – befinden.

Text: Doris Senn / 25. Apr. 2012

Es ist heiss. Der Ventilator läuft auf Hochtouren. Drei junge Frauen sitzen in Unterwäsche im selben Raum eines Hauses, umgeben von einem idyllischen Garten. Es sind Schwestern, wie bald klar wird. Und wir befinden uns in Buenos Aires.

In ihrem Erstlingsfilm zeichnet Milagros Mumenthaler den Mikrokosmos von drei jungen Frauen, luftig und bedrückend zugleich. Bald zeigt sich, dass trotz dem scheinbar ereignislosen Einerlei eigentlich Ausnahmezustand herrscht und die drei sich wie in einem Vakuum – der Zeit, des Lebens – befinden. So erfahren wir, dass sie bei der Grossmutter aufwuchsen. Dass ihre Eltern verstarben. Dass nun die Grossmutter ebenfalls plötzlich verstorben ist. Dass sie nun mit dieser Leere irgendwie umgehen müssen.

An ihrer eigenen Biografie inspiriert habe sie sich, schreibt die Filmemacherin, deren Eltern vor der Militärdiktatur in Argentinien flohen und die mit zwei Schwestern in Genf aufwuchs – später dann nach Buenos Aires ging, um Film zu studieren, wo sie eine Weile mit ihrer Grossmutter zusammenlebte: keine Seltenheit für Menschen ihrer Generation, deren Eltern während der Diktatur auf mysteriöse Zeit verschwanden, so Mumenthaler. Und so erzählt Abrir puertas y ventanas von einer kleinen Schicksalsgemeinschaft, die – der Zeit enthoben – Tag auf Tag folgen lässt: Mal ist es heiss, mal giesst es in Strömen – mal geht die eine ins Stadtzentrum, mal die andere. Dabei ist Marina, die Älteste, insgeheim in den jungen Mann verliebt, der die Wohnung im ersten Stock des Hauses gemietet hat. Sofia mit ihren aufreizenden Tenüs intrigiert gegen Marina, während Violeta, die Schönste und Jüngste von allen, vorzugsweise auf dem Sofa sitzt und Telenovelas schaut – oder in den geheimnisvollen Truhen der Grossmutter stöbert, aus denen sie mitunter ein feines Spitzenkorsett an den Tag befördert, das sie anzieht, um sich dann auf das grosse Bett ihrer Oma zu legen.

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Das alles zeigt Mumenthaler, indem sie die Protagonistinnen mit ihrer Kamera begleitet und aus Abrir puertas y ventanas ein Huis clos im ureigensten Sinn des Wortes macht. So bewegen wir uns -einen Film lang im Innenraum eines Hauses, das Zuhause und Gefängnis zugleich ist, bedrückende Erinnerung und wohlige Geborgenheit in einem. Die Aussenwelt existiert nur bedingt: in der Form von Telefonanrufen, in Briefen, in Menschen, die sich momentweise dorthin verirren. So eignet dem Film auch etwas Theatralisches. Doch die ruhige Kamera mit ihren vielen fliessenden Bewegungen, dem augenscheinlichen Gleiten von einem Raum zum andern, wirkt dem entgegen und gibt dem Film Zeit und Raum und etwas ausserordentlich Atmosphärisches. Dabei spielt die Kamera immer wieder sehr bewusst mit Starre und Dynamik: etwa wenn sie langsam auf ein unspektakuläres Bild – die Schwestern sitzen bewegungslos nebeneinander auf dem Sofa – hinein- oder herauszoomt. Oder wenn die Kadrierung fix bleibt und die Bewegung nur momentweise in sie hineinreicht: Marina, die auf der Schaukel sitzt und deren Flip-Flop-Sandale in Grossaufnahme rhythmisch wiederkehrend ins Bild rückt. Eine schöne Mise en Abîme der Handlung, in deren Zentrum das Haus und das Kommen und Gehen der Schwestern steht.

So erzählt Abrir puertas y ventanas insbesondere vom Loslassen und Festhalten, vom Eintauchen in Trauer und Erinnerung, vom Sichtreibenlassen – eine Geschichte, in der die Zeit mitunter stehen bleibt und die Aussenwelt zu verschwinden droht. Die Figuren kommen uns nah, und doch können wir über ihr Innenleben nur mutmassen. Davon lebt die Spannung des Films – bis hin zum Aufbruch, der sich zum Ende hin abzeichnet, um den Figuren den Weg auf eine Zukunft hin zu öffnen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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