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Terraferma 01

Terraferma

In den ersten Filmminuten legt Emanuele Crialese das dramaturgische Gerüst seines neuen Films dar: Er nimmt sich der italienischen Immigrationspolitik an und konfrontiert dieses globale Problem mit dem Mikrokosmos einer Kleinfamilie – es geht um einfache Leute, die von politischen Mechanismen überrollt werden.

Text: Lara Sascha Bleuler / 13. Juni 2012

Ein Fischerboot von unten. Tiefblau das Wasser des Meeres, Wellen kräuseln sich ums Boot, das leicht schaukelt, aber an Ort bleibt. Ein grossmaschiges Fischernetz schwebt hinunter, legt sich quasi um das Kameraobjektiv, ein kleiner Fisch entweicht gerade noch. Es folgt ein harter Schnitt an die Oberfläche des Meeresspiegels, die Unterwasserstille wird jäh zerrissen vom Geschrei der Möwen. Auf dem kleinen Fischerboot sind bärtige Männer bei der Arbeit, auf dem Deck tanzt ein Seemann in der Dämmerung.

Doch die Idylle trügt. Die Fischer der kleinen italienischen Insel Linosa kämpfen ums Überleben. Ihre finanzielle Notlage wird nur saisonal dank der Touristen erleichtert, die im Sommer wie hungrige Kälber auf die Insel strömen – deren Hippie-Klamotten kontrastieren grell mit den ärmlichen Grautönen der Kleider der Inselbewohner.

In den ersten Filmminuten legt Emanuele Crialese das dramaturgische Gerüst seines neuen Films dar: Er nimmt sich der italienischen Immigrationspolitik an und konfrontiert dieses globale Problem mit dem Mikrokosmos einer Kleinfamilie – es geht um einfache Leute, die von politischen Mechanismen überrollt werden. Ernesto als nicht korrumpierbarer Grossvater liegt in stetem Konflikt mit seinem ambitionierten Sohn, der sich als Touristen-Animator dem Wandel der Zeit beugt. Ernestos Enkel Filippo, gespielt vom Jung-Schauspieler Filippo Puccilo, der mit seinem blonden Wuschelkopf und den weit aufgerissenen Augen oftmals grenzwertig naiv wirkt, droht, sich einen Sommer lang in den Wirren der Flüchtlingspolitik zu verlieren. Sein Vater ist vor Jahren im offenen Meer verschwunden, die jährliche Erinnerungszeremonie am Strand ist schon fast Routine. Die verwitwete Giulietta hat die Nase voll von ihrem stagnierenden Leben, sie will mit ihrem Sohn aufs Festland ziehen und dort ein neues Leben anfangen. Um das dafür notwendige Geld zusammenzukriegen, vermietet sie ihre Wohnung an drei junge Touristen.

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An Filippo wird der zweischneidige Generationenkonflikt ausgehandelt: Die “moderne” Welt seines Onkels und seiner Mutter lockt ihn, doch fühlt er sich auch mit der traditionsreichen Lebenswelt seines Grossvaters verbunden – mit den Regeln des Meeres, die einer eigenen Dynamik gehorchen und nicht immer mit dem weltlichen Gesetz konform gehen.

Ernesto und Filippo, dem Ehrenkodex der Fischer verpflichtet, retten eines Nachts sechs afrikanische Flüchtlinge vor dem Ertrinken und verstecken eine schwangere Äthiopierin mit ihrem kleinen Sohn bei sich in der Garage, durchaus im Wissen um diese höchst illegale Handlung. Die emotionale Bindung zwischen Giulietta und der Äthiopierin – beide männerlos – wird alsbald verstärkt durch die Geburt eines Babys. Giuliettas anfängliches Vorhaben, sich der Polizei zu stellen, wird für sie immer unmöglicher. Zudem gilt es, sich die drei jugendlichen Sommerhaus-Mieter von nebenan vom Leib zu halten. Kein einfaches Unterfangen, zumal die kecke Blondine Maura dem schüchternen Filippo gefällt und die Polizei Ernestos Boot konfisziert hat. In einer nahezu dokumentarisch gefilmten Szene rufen die älteren Fischer zum Widerstand auf und überschwemmen – bildgewaltig – den örtlichen Polizeiposten mit ihrem zappelig-glänzenden Fang.

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Man spürt Crialeses poetische Liebe zur Insel Linosa (ähnlich wie in Respiro von 2002 zu Lampedusa). Lichtdesign und Kameraarbeit feiern die vulkanische Schönheit dieses Naturparadieses, das von der Rücksichtslosigkeit der Touristen zerstört wird. In einer seltsam entrückten Szene (Vorlage für das internationale Filmposter) tanzen die Spasssüchtigen auf einer Yacht zu brutalem Technobeat. Die Flagge der Moral, die der Film hochhält, ist von Anfang an deutlich “im Bild”; doch das Schema von Gut und Böse, wie es hier auf Polizisten und Flüchtlinge angewendet wird, mag der komplexen Immigrationsproblematik in Italien nicht beizukommen. Das emotionale Dilemma des Protagonisten Filippo gipfelt dann auch in einer überladenen, mit Horror-Elementen gespickten Sequenz. Beim nächtlichen Nacktschwimmen mit der schönen Maura werden die Flirtenden von einer schreienden Meute von Flüchtlingen, die sich an ihr Boot klammern, gestört. In blinder Panik schlägt Filippo auf die schwarzen Hände ein und steuert das Boot von den Hilfesuchenden weg.

Der naive Held verliert mit diesem Gewaltakt seine Unschuld. Sein Schuld- und Läuterungsprozess wird dramatisch aufgeladen, wenn am nächsten Morgen die erschöpften Körper – in Zeitlupe und mit musikalischer Untermalung – am Strand der Massentouristen angeschwemmt werden. Frauen in Bikinis stürzen sich – ebenfalls in Zeitlupe gefilmt – auf die halbtoten Leiber und flössen ihnen Wasser ein, jemand hält das Spektakel auf seinem iPhone fest.

Terraferma appelliert an den Gutmenschen in uns, doch die blasse Identifikationsfigur Filippo ist als Projektionsfläche ungeeignet: zu unmotiviert stolpert der knabenhafte Italiener zwischen den Fronten hin und her, und seine plötzliche Entschlossenheit am Ende des Films ist nur schwer nachvollziehbar. Es mutet fast ironisch an, dass die stillen Unterwasseraufnahmen, wenn die Kamera scheinbar zufällig über die Korallenriffe gleitet und verlorene Gegenstände und Kleidungsstücke von Immigranten streift, mehr emotionale Ergriffenheit erzeugen als die zwar sorgfältig inszenierten, aber oftmals arg geschwätzigen Szenen an der Wasseroberfläche.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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