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Amour de jeunesse 01

Un amour de jeunesse

Über acht Jahre hin geht Un amour de jeunesse seiner Heldin nach und gehorcht dabei dem Paradox, das bereits Gelebte werde zwar erst aus dem Nachhinein verständlich: doch wolle alles, was es noch zu leben gebe, gleichwohl im Vorwärtsschreiten angegangen sein.

Text: Pierre Lachat / 25. Juli 2012

Über acht Jahre hin geht Un amour de jeunesse seiner Heldin nach und gehorcht dabei dem Paradox, das bereits Gelebte werde zwar erst aus dem Nachhinein verständlich: doch wolle alles, was es noch zu leben gebe, gleichwohl im Vorwärtsschreiten angegangen sein. Während der fraglichen Periode beschreibt die junge Frau, anfangs noch ein Mädchen, eine Art biografischer Zirkelbewegung zwischen Vergangenheit und Zukunft; der Kreis führt sie von dem mehr oder weniger gleichaltrigen Sullivan über den merklich älteren Lorenz wieder zurück zur Jugendliebe. Camille hat versucht, sich das Leben zu nehmen, als Sullivan sie verliess; das leidlich stabile Verhältnis zu Lorenz hat sie dann aber ihrerseits aufs Spiel gesetzt, indem sie nach Jahren wieder eine heimliche Beziehung zu ihrer ehemals untreuen, inzwischen aber gescheiter gewordenen alten Flamme einging.

So gesehen erscheint die Liebe als ebenso kreativ wie destruktiv und nur in einem folgerichtig: auf gut Glück diktiert sie völlig unberechenbares Handeln. Woraus eine ausgewachsene Dreiecksgeschichte hervorgehen soll, erwartet von dem mitwirkenden Trio, sich gleichermassen quer zu aller Vernunft zu gebärden. Ideal dazu passend ist der Film von Mia Hansen-Løve weniger auf stilistische Gradlinigkeit bedacht, sondern lässt es häufig auf das Zufällige, ja Zusammengeschusterte ankommen. An die Stelle der Stromlinienform eines instanzengerecht standardisierten Drehbuchs tritt der gelegentlich verwirrende und gerade darum überzeugende Widersinn der amourösen Verläufe; sie mögen weniger von der Leinwand her vertraut sein, aber dafür mehr aus eigenem Erleben. Von den salades de l’amour sprach seinerzeit François Truffaut, aus Erfahrung und mit bleibender Wirkung.

Amour de jeunesse 02

Die waghalsigen Produktionsmethoden der Nouvelle Vague werden wieder erkennbar, die immerhin so etwas wie die Jugendbewegung der Filmgeschichte war und es wahrscheinlich bleiben wird. Weder konsequent noch belehrend, weder psychologisierend noch philosophierend, geniesst un amour de jeunesse den Vorzug der Frische und Dringlichkeit. Ob die Figur der Camille im engern Sinn autobiografisch sei, darf dahingestellt bleiben. Doch ist anzunehmen, dass die Autorin eine Leidenschaft aufleben lässt, der sie selber einmal erlegen wäre.

Kontinuierliche Perspektive

Jugendlieben sind spätestens seit Romeo und Julia fast exklusiv den Gattungen des klassischen und romantischen Melodrams zugesprochen. Hier wie dort leisten der Überschwang und der bedingungslose Sturm und Drang eines amour de jeunesse vorzügliche narrative Dienste. Die ungeduldige Spontaneität, die den noch ganz wilden ersten Aufwallungen des Eros zufällt, ist dazu angetan, die Leser oder Zuschauer gleich mit zu überwältigen. Indem die ungewohnten Empfindungen vorangehen und alle spätkindliche Tändelei und jedes frühpubertäre Techtelmechtel hinter sich lassen, setzen sie auf alles oder nichts. Bewusst oder unbewusst steuern sie den obligaten kläglichen, im Extremfall auch einmal tödlichen Ausgang herbei.

Das Ungestüm, mit dem der amour fou einen erfassen kann, so heisst dann die eigentliche Raserei der Liebe, zieht das Jähe des Absturzes unmittelbar nach sich. Das Erglühen und das Erlöschen reichen einander die Hand. Wenn ein Doppelselbstmord eine uneingestandene Angst beim un- oder überglücklichen Paar verrät, dann ist es die, angesichts der harschen Realitäten könnte das schwebende Hochgefühl sich so schnell verflüchtigen wie in einem Traum. Doch umgeht der Film von Mia Hansen-Løve nüchtern das allzu geläufige Motiv des vereinbarten romantischen Suizids. Eine kritische Phase, während der es aussieht, als wäre die Heldin ihres Lebens wahrhaft überdrüssig geworden, wird nur kurz gestreift.

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Woran es den Romanzen der frühen Jahre zuvorderst mangelt, ist das Verständnis für die Zeit und ihre Gezeiten, begriffen als eine der Dimensionen jeden Daseins. Überhaupt sieht sich dann das Gesamte des Themas aus der Befangenheit im Augenblicklichen herausgelöst und in eine kontinuierliche Perspektive gerückt. Die Jugend wird weniger als ein Zustand beschrieben, heisst das, der sozusagen einer bestimmten Massgabe folgend seinem sanften oder unsanften Ende entgegengeht; eher erscheint sie als bald stolpernder, bald gleitender Übergang zwischen der Kindheit und dem definitiven Erwachsenwerden.

Gezähmt und am rechten Platz

Einmal gefasst und gefestigt, hat sich die Zuneigung zu verändern, soll sie ausreichend an Dauer zulegen können; oder sie hat zu gedeihen und zu reifen, wie die bürgerliche Schönrede es umschreibt. Denn bei Stillstand müsste ein rasches Ende mit Schrecken drohen. Zudem erprobt und beweist sich die Fähigkeit, Minne untereinander auszutauschen, ganz zweckmässig an mehr als einem Gegenüber. Camilles Schwanken zwischen ihren beiden recht unterschiedlichen Geliebten ist keinesfalls nur einer Entscheidungsschwäche oder Unerfahrenheit zuzuschreiben.

Indessen, die vornehmste Stärke von Un amour de jeunesse besteht darin, dass das Jungsein und mit ihm das Gewähren und das Erwidern der Gunst in keine schwärmerische überirdische Verklärung erhoben werden. Ebenso wenig ergeht eine erzieherische Warnung vor den evidenten Risiken und bedenklichen Illusionen des tollen Treibens. Statt gegeneinander ausgespielt werden die Geschlechter schon fast abgeklärt gegeneinander gehalten, wobei sich alle Vergleiche und Hypothesen als letztlich hilflos erweisen. Männer sind Männer, Frauen sind Frauen. Punkt. Davon ist auszugehen, und auf Feld eins kehrt es sich wieder zurück.

Der Stoff, aus dem die klassische folie à deux, der vollendete Wahnsinn im Zweierbund sich nährt, erscheint schlicht und simpel als eine der Gegebenheiten des Lebens; ob er Lust und Leid halbiert oder verdoppelt, wäre noch eine Frage wert. Gewiss, Wonne wird die herzhaft bis schmerzlich ineinander Verzahnten und Verkeilten mehr als hinlänglich überströmen; dennoch gilt es früher oder später, über die weitere Strecke hin, ein Auskommen mit der beidseitigen verrückten Verzückung zu finden, mehr noch: einen expliziten Pakt abzuschliessen. Alle Verträge haben eine innere, unerklärte Laufzeit und erneuern sich selten von allein. Gegen das Ende einer im Zickzack, aber doch recht glimpflich verlaufenen Dreiecksgeschichte hin will die Liebe gezähmt und an ihrem rechten Platz gehalten sein: dort, wo sie mindestens keine weiteren Wunden mehr schlagen kann.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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