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Jagten 01

Jagten

Thomas Vinterberg, Mitbegründer von Dogma 95, gelingt mit Jagten ein subtiles Meisterwerk. Wieder dreht sich der Film um ein brisantes Thema: um Pädophilie und um die Verdachtshysterie, der die moderne Gesellschaft in ihrer Überfürsorglichkeit um das Kind zeitweise erliegt. Die Grenzen zwischen Erdachtem und Erlebtem, zwischen Erinnerung und Suggestion verwischen zunehmend.

Text: Doris Senn / 23. Jan. 2013

Es beginnt derb und laut und fröhlich: Das Dorf trifft sich im Winter zum Schwimmen beim kleinen See. Die Mutigen, die es ins eisige Wasser schaffen, lassen sich feiern – man sitzt zusammen, man trinkt, man singt und macht träfe Sprüche. Männerrituale. Wir sind in einem kleinen dänischen Dorf gelandet, wo man Gemeinschaft lebt – selbstverständlich und alltäglich, wo jeder jeden kennt, und das seit Kindsbeinen, und die Männer bis zum Umfallen feiern – in verrauchten Küchen, unter sich. Mehr oder weniger intakte Kleinfamilien in rustikalen Einfamilienhäusern. Lucas gehört dazu, fühlt sich geborgen unter seinen Kumpeln.

So weit, so gut. Zumindest bis zu dem Tag, an dem Klara – die Tochter von Lucas’ bestem Freund und Kumpan Theo – sich, so klein sie ist, in Lucas verguckt, der im Hort arbeitet. Als Lucas nett, aber korrekt ihr die Grenzen aufzeigt, erzählt Klara der Hortleiterin etwas, was sie am Abend zuvor mit einem halben Ohr und einem halben Auge von ihrem grösseren Bruder aufgeschnappt hat. Vom «Schniedel» ist da die Rede, vom «Stehen wie eine Latte» und davon, dass Lucas ihr ein kleines Plastikherz geschenkt habe, das sie gar nicht wolle … Nun nimmt die Geschichte ihren Lauf – und wir können zuschauen, wie aus einer kleinen Lüge ein grosses Drama wird: Nachdem die Hortleiterin Grethe die Dinge erst noch für sich abwiegelt, wendet sie sich schon am nächsten Tag an einen befreundeten Psychologen, der Klara vorsichtig – aber erschreckend suggestiv – befragt. Es folgt die vorsorgliche Denunziation bei der Polizei, und schliesslich beruft Grethe auch noch eine Elternversammlung ein. So wird aus dem Verdacht im Handumdrehen eine Tatsache, aus dem Freund ein Täter, aus der gutgemeinten Sorge um das Kind eine Hexenjagd.

Thomas Vinterberg, Mitbegründer von Dogma 95, gelingt mit Jagten ein subtiles Meisterwerk. Der heute Dreiundvierzigjährige, der als jüngster Absolvent 1993 die dänische Filmschule abschloss, um gleich auch noch seinen Diplomfilm Sidste omgang für den Studenten-Oscar nominiert zu sehen, wurde weltweit bekannt mit Festen (1998), dem ersten Dogma-Film überhaupt: Der Film erzählte von einer Familienfeier, in deren Rahmen der Missbrauch des Vaters an zweien seiner Kinder aufgedeckt wird. Mit seinem mitreissenden, ungeschönten Stil – Dogma! –, seinen improvisiert anmutenden Dialogen und der hochspannenden Dramaturgie schuf Vinterberg einen bravourösen Film zu einem heiklen Thema – und eine Musterversion für den Dogma-Film par excellence.

Jagten 02

Nun, ein gutes Dutzend Jahre später – es folgten eine Reihe TV-Produktionen und Kinofilme, die weniger Beachtung fanden, und Theaterinszenierungen, unter anderem am Wiener Burgtheater – läuft Vinterberg mit Jagten erneut zu Hochform auf und legt ein hochspannendes Sozialdrama mit thrillerhaften Einsprengseln vor. Wieder dreht sich der Film um ein brisantes Thema: um Pädophilie zum einen und um die Verdachtshysterie, der die moderne Gesellschaft in ihrer Überfürsorglichkeit um das Kind zeitweise erliegt, zum anderen. Die Grenzen zwischen Erdachtem und Erlebtem, zwischen Erinnerung und Suggestion verwischen darin zunehmend.

In Jagten erinnern nur wenige Episoden an jenen virtuos-chaotischen Dogma-Stil von Festen. Vielmehr zelebriert Vinterberg in seinem neusten Werk eine eher klassisch-lineare Erzählform, die aber mit einem unglaublich raffiniert konstruierten Drehbuch besticht, in dem sich die verschiedenen Stränge zu einem schillernden Gewebe verbinden. Dabei entspringen dem leitmotivischen Thema der Jagd vielfache Erzählfäden samt einer meisterhaft eingefügten Mise en abyme – der Mikrostruktur der realen Jagd, die als Spiegelung der “grossen” metaphorischen Geschichte um Lucas funktioniert. Die Jagd dient nicht nur als Rahmenhandlung – angefangen bei den idyllischen Bildern von den grossen herbstlichen Wäldern, in denen das Wild umherstreift. Sie funktioniert auch auf einer bildlichen Ebene, wenn die Aufnahme des geprügelten und vom Kesseltreiben sichtlich gezeichneten Lucas, der ins Dunkel starrt, an die Bilder vom erlegten Wild im Wald anklingt, das mit leerem Blick Richtung Kamera “schaut”…

Die Bravour des Drehbuchs liegt insbesondere in seiner visuellen Umsetzung und den wohltuend unpapierenen Dialogen. Von Beginn weg werden die Figuren mit wenigen Episoden und Gesprächsfragmenten als dreidimensionale Charaktere gezeichnet – und das leichtfüssig und wie nebenbei. So erfahren wir das Wichtigste zu Lucas schon in den ersten Minuten – im Treffen mit Lucas’ bestem Freund Theo etwa oder im Gespräch mit der kleinen Klara, die von Lucas heimbegleitet wird. Und wir entwickeln schon nach wenigen Szenen ein Gefühl für die Dynamik der kleinen Dorfgemeinschaft und Lucas’ Position darin.

Getragen wird die Story durch einen brillanten Mads Mikkelsen in einer seiner bislang wohl besten Performances: Er stattet die Figur mit emotionaler Tiefe und viel Warmherzigkeit aus. Aber auch Klara – engelhaft und dämonisch zugleich – ist ein schauspielerischer Glücksfall: Die fünfjährige Annika Wedderkopp in ihrer allerersten Filmrolle, mit ihrem kleinen Nasentick und dem ebenso ernsten wie unschuldigen Blick, ihrem aber auch bös-berechnenden Gebaren mimt absolut glaubwürdig das kleine Mädchen mit dem gebrochenen Herzen, das sich für die Kränkung so unwissend-wissend rächt. Beide tragen einen grossen Teil zum Gelingen dieses Films bei, der seine fast zweistündige Dauer in einem atemberaubenden Zug durchmisst und eine unglaubliche Wucht entfaltet, die noch weit über das Filmende hinaus anhält.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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