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Post tenebras lux 01

Post Tenebras Lux

Die Rührung kommt überraschend, erst gegen Schluss. Nach der erwarteten Gewalt, nach beklemmenden Gehässigkeiten, bilderwirrigen Irrfahrten, verstörenden Brüchen. Von Anfang an war er uns suspekt, dieser Juan mit seinem Dreitagebart.

Text: Michael Pfister / 23. Jan. 2013

Die Rührung kommt überraschend, erst gegen Schluss. Nach der erwarteten Gewalt, nach beklemmenden Gehässigkeiten, bilderwirrigen Irrfahrten, verstörenden Brüchen. Von Anfang an war er uns suspekt, dieser Juan mit seinem Dreitagebart, ein weisser Oberschichtenmexikaner, der seiner jungen Familie einen Luxusbungalow in den grünen Hügeln von Morelos gebaut hat. Er schlägt seine Lieblingshündin halbtot, streitet sich mit seiner angespannten Frau Natalia über Vorhänge und begleitet – ganz aufgeschlossener patrón – den Mestizen El Siete, der für ihn arbeitet, zu einem Treffen der Anonymen Alkoholiker, um dann seine Internet-Pornosucht angesichts der schlimmen Schicksale der einfachen Leute gönnerhaft herunterzuspielen. Ein Mann in der Krise, sicher. Aber letztlich ist er doch selber schuld daran, denken wir, geschieht ihm recht.

Doch dann liegt Juan, der El Siete bei einem Einbruch in sein Haus ertappt hat, mit durchschossener Lunge im Bett, und Natalia, seine Frau, setzt sich ans verstimmte Klavier und singt für ihn Neil Youngs «It’s a Dream». So falsch wie es nur geht, und dennoch herzzerreissend, tränenträchtig. Die beiden kleinen Kinder (Reygadas’ eigene Kinder Eleazar und Rut) trappeln und plappern derweil munter durchs Haus. Und in diesem Moment klärt sich der ganze düstere Film samt seinem calvinistischen Titel. Aus Teilen wird ein Ganzes, wir verstehen plötzlich alles – und es quält uns überhaupt nicht, dass man es auch ganz anders verstehen könnte. Das falsche Leben wird nur richtig, wenn es doppelt und dreifach falsch wird.

Japón (2002) hiess der Paukenschlag, der den in England und Belgien zum Völkerrechtler ausgebildeten Carlos Reygadas vor einem Jahrzehnt berühmt machte: Die Geschichte eines Mannes, der in eine Schlucht in Hidalgo steigt, um sich das Leben zu nehmen, war noch von einem Hang zum Heroismus, von einer mythischen Metaphysik der Einsamkeit geprägt. Zum Skandal wurde der Film wegen der expliziten Liebesszene mit einer sechsundsiebzigjährigen Indianerin. Batalla en el cielo (2005) war das urbane Pendant dazu: kafkaeske tableaux vivants aus dem Leben eines beleibten und kriminell gewordenen Chauffeurs. Das Markenzeichen «bizarrer Sex» garantierte dort die rätselhafte Beziehung der Hauptfigur mit der gelangweilten Tochter seines Chefs. Immer noch himmelweit fremd war Stellet Licht (2008) und doch der bisher wohl konventionellste Film Reygadas’: das manchmal wie ein Dokumentarfilm anmutende, fast vollständig in Plautdietsch gedrehte Drama eines mennonitischen Familienvaters im Norden Mexikos, der seine Frau mit einer anderen betrügt.

In all seinen Werken frönt Reygadas zwei Stilprinzipien, die nur auf den ersten Blick gegensätzlich erscheinen: einem radikalen Realismus des Alltags, der die Elemente des Lebens gleichberechtigt behandelt – bald mit einer geduldigen Liebe zum Detail, bald bruchstückhaft, rastlos suchend. Und einer gleichsam transzendenten Ebene der existenziellen und ästhetischen Grenzerfahrung, auf der es um Fremdheit, Monstrosität, Eros, Mystik, Traum und Einsamkeit geht, um die surrealen Abgründe, in die fühlende und denkende Menschen abzustürzen pflegen und aus denen sie manchmal wieder mit neuer Kraft zurückkehren.

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In diesem Sinne ist Post Tenebras Lux («Nach der Finsternis das Licht») eine Zusammenfassung der früheren Arbeiten, die aber fast ohne plakative Überschreitungen auskommt. Zwar gibt es auch hier ein Stelldichein mit der Perversion, wenn wir Juan und Natalia auf ihrem Touristenausflug in eine dampfschwadige Pariser Swingersauna begleiten. Doch die Episode ist erratisch, wohl ein Rückblick auf die kinderlose Zeit des Paares. Erlebnisse, Erinnerungen, Phantasien oder mögliche Parallelwelten – in Reygadas’ Realismus, der alles andere als magisch ist, spricht die Wirklichkeit viele Sprachen. In Cannes verlangten Journalisten nach einem Abstract, einem Schlüssel zum angeblich so kryptischen Werk. Dabei ist es höchstens vordergründig unverständlich und wohl der bisher offenste Film des Regisseurs, der dem Betrachter freilich viel Freiheit zumutet.

Schon die erste Szene dieses Meisterwerks zeigt ein faszinierendes Zwischenreich: Die vielleicht zweijährige Rut (und mit ihr, auf Kniehöhe, die Kamera) tappt auf einer vom Regen getränkten Wiese herum und jubiliert über die Kühe, denen sie dort begegnet. Im Hintergrund galoppieren Pferde, von Hunden umkläfft. Der Himmel verdunkelt sich, Angst mischt sich in die Stimme des kleinen Mädchens, das seine Eltern und die schützende casa sucht. Erst im Nachhinein wird diese Eingangssequenz als Traum des Kindes erkennbar, zu der sich eine andere Traumsequenz gesellt, die aus Reygadas’ eigener Kindheit stammt: Ein digital animierter roter Teufel mit einer Werkzeugkiste schleicht durchs Haus und beobachtet die schlafenden Familienmitglieder.

Das zentrale Thema des Filmes sind die Beziehungen in der jungen Familie mit all ihren Glücksmomenten, Hoffnungen, Verletzungen, Verzweiflungen. Indem sich Juans Familie an derjenigen seines Angestellten El Siete spiegelt, der von seiner Frau mit den beiden Kindern verlassen wurde, öffnet sich die politisch-soziale Schere zwischen den Privilegierten und den schlecht bezahlten Arbeitskräften in Mexiko. Mit leichter Hand setzt der Regisseur eine Fiesta mit aggressiven Trunkenbolden in einer Dorfspelunke neben die Weihnachtsparty einer städtischen Familie, bei der die Kinder vor der Urgrossmutter zur Audienz antraben und über ihre Zukunftspläne Auskunft geben müssen. Damit knüpft Reygadas an seinen Kurzfilm Éste es mi reino («Das ist mein Reich») an, den er 2010, aus Anlass des Jubiläums Hundert Jahre mexikanische Revolution, für das Episodenfilmprojekt Revolución 10.10 der Produktionsfirma Canana (Gael García Bernal und Diego Luna) drehte und der nichts weiter als ein Fest für dreihundert Leute aus unterschiedlichen Schichten zeigt, bei dem am Schluss ein altes Autowrack in Flammen aufgeht – eine umwerfende Parabel sowohl auf die Revolution von Zapata und Pancho Villa, bei der ein paar Banditen und Bauern das Land in Brand steckten, ohne dass dies an den Machtverhältnissen auf Dauer viel geändert hätte, als auch auf die heutige mexikanische Gesellschaft, die sich von den zigtausenden junger Opfer des sogenannten Drogenkriegs nicht wirklich aus dem Konzept bringen lässt.

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Ja, die Gewalt bildet den roten Faden auch dieses vierten Spielfilms von Carlos Reygadas. Die vielleicht schockierendste Sequenz ist ein Kommentar zu der seit ein paar Jahren grassierenden Manie der Verbrecherbanden, ihre Opfer zu enthaupten und die Köpfe als Trophäen zu inszenieren. Eigentlich ist der Mexikaner … ist der Mensch ein Wesen, das zwischen Selbstbehauptung und Selbstenthauptung schwankt. So sieht es Reygadas, dessen Radikalität letztlich aber nicht in den erschütternden Inhalten besteht, sondern viel ausgeprägter noch in seiner Filmsprache. Ein typisches Element seiner früheren Werke waren die 360-Grad-Schwenks, die nun komplexeren, lebensnäheren Kamerabewegungen weichen. Vom Panorama wechselt Reygadas zum Hologramm: Jede Einstellung webt ein Netz von Beziehungen zu anderen Szenen und spiegelt so das Ganze im Detail. Während Japón noch in episch-romantischem Cinemascope schwelgte, haben Reygadas und sein Kameramann Alexis Zabé für Post Tenebras Lux ein höheres Format gewählt und zudem – vor allem für die Aussenaufnahmen – mit einem Tilt-Shift-Effekt gearbeitet, der eine etwas unheimliche Plastizität der Bildmitte bewirkt, gleichzeitig aber die Ränder verschwimmen lässt und die Konturen der Personen auratisch verdoppelt.

Ob Juan seine Verletzung überlebt, bleibt am Ende ungewiss. «Papa ist gerade gestorben», plaudert sein kleiner Sohn daher, als der reumütige El Siete zu Juan will, um ihn vielleicht um Verzeihung zu bitten. Post lucem tenebrae. Und doch sehen wir den Vater in zwei Szenen, in denen die Kinder schon viel grösser sind. Reale Zukunft oder verpasste Möglichkeit? It’s a dream, only a dream, and it’s fading now.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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