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Verliebte Feinde

Der Historiker Wilfried Meichtry hat das Leben zweier unterschiedlicher, aber so unglaublich moderner Charaktere der jüngeren Schweizer Geschichte, Iris und Peter von Roten, in ein romanhaftes Buch gefasst. Darauf basiert hat der Dokumentarfilmemacher Werner Swiss Schweizer ein Doku-Drama realisiert, in dem er ein grosses Konglomerat an visuellem und schriftlichem Material bravourös bewältigt und mit inszenierten Handlungen ergänzte.

Text: Doris Senn / 23. Jan. 2013

Mit ihrem Buch «Frauen im Laufgitter – Offene Worte zur Stellung der Frau», das 1958 erschien, wurde Iris von Roten über Nacht zur bekanntesten, aber auch meistkritisierten, ja meistverhöhnten Frau der Schweiz. Die promovierte Juristin und engagierte Frauenrechtlerin wurde 1917 in eine Basler Unternehmerfamilie geboren und war bereits als junge Erwachsene beeindruckend hellsichtig, was ihre Analysen der Gesellschaft in Bezug auf die Stellung von Frau und Mann betraf. Viele ihrer Postulate nahmen um Jahre, wenn nicht Jahrzehnte spätere Entwicklungen voraus: etwa die Postulate der Achtundsechziger – freie Liebe, selbstbestimmte Sexualität, egalitäre Gesellschaft und liberale Kindererziehung –, aber auch jene der Frauenbewegung, die für eine Emanzipation der Frau kämpfte, für ihr Recht auf Berufstätigkeit oder die Einrichtung von Kinderkrippen und Tagesschulen.

Vergiss mein nicht 02

Beeindruckend ist insbesondere aber auch, dass die lebenslustige Iris von Roten ihre visionären Ideen und Überzeugungen nicht zuletzt in ihrem Privatleben umzusetzen suchte: Als sie nach langjährigem Hin und Her Peter von Roten, den Spross einer alteingesessenen Walliser Patrizierfamilie, heiratete und im erzkatholischen Wallis Wohnsitz nahm – was ihre Position alles in allem noch schwieriger machte –, beschloss sie schliesslich, nach Amerika zu gehen, um dort in Ruhe für ihr Buch zu recherchieren, aber auch ihre sexuelle Freiheit auszuloten. Die Liebe zu ihrem Mann hatte in all dieser Zeit Bestand – der gemeinsame Briefwechsel zeugt von ihrer gegenseitigen grossen Offenheit und ungebrochenen Zuneigung. Iris von Roten konnte auf die Unterstützung ihres Mannes zählen, der – ebenfalls Jurist und kurz nach ihrer Heirat zum damals jüngsten Nationalrat der Schweiz gewählt – ein überzeugter Antimilitarist war und schon früh die Anliegen seiner Frau zu seinen eigenen machte. Während man ihn belächelte und ihm Steine in den Karriereweg zu legen suchte, war sie – insbesondere nach der Publikation ihres Buchs – dem bitterbösen Spott der Zeitgenossen ausgeliefert und musste sich zudem mit der fehlenden Solidarität von Mitstreiterinnen (so etwa des Frauenbunds im Hinblick auf die Abstimmung für das Frauenstimmrecht) abfinden.

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Der Historiker Wilfried Meichtry hat das Leben der beiden unterschiedlichen, aber so unglaublich modernen Charaktere der jüngeren Geschichte der Schweiz in ein romanhaftes Buch gefasst, ausgehend von Recherchen, Gesprächen mit Zeitzeugen und rund 1500 Briefen, welche Iris und Peter von Roten sich im Laufe ihres Lebens schrieben. Darauf basierend, hat der Dokumentarfilmemacher Werner Swiss Schweizer (Hidden Heart, Noël Field) mit einem eher kleinen Budget von 1,5 Millionen Franken ein Doku-Drama realisiert, in dem er das grosse Konglomerat an visuellem und schriftlichem Material – Homemovies der Familie von Roten, historische Wochenschauen, Gespräche mit Zeitzeugen, Privat- und Familienfotos sowie natürlich die unglaublich vielen, spannenden und sehr persönlichen Briefe, die aus dem Off die Erzählung bilden – bravourös bewältigte und mit inszenierten Handlungen ergänzte. Die Besetzung mit Mona Petri als Iris und Fabian Krüger (Der Sandmann) als Peter ist geglückt, und das vielfältige Material geht im fast zweistündigen Film fliessend und abwechslungsreich ineinander über. So bietet der Film mit seinen vielfältigen dokumentarischen Zeugnissen aufschlussreiche Einblicke in die historische Zeit und die Lebensläufe dieser so spannenden Persönlichkeiten, die absolut zu Unrecht – gerade was Iris von Roten und ihr Buch angeht – heute grösstenteils vergessen sind. Verliebte Feinde ist ein erneuter und hoffentlich erfolgreicher Versuch, Iris und Peter von Roten als bedeutendes Vorläuferpaar einer modernen Mentalität und Gesellschaft in der Schweiz anzuerkennen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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