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Das merkwuerdige kaetzchen 01

Das merkwürdige Kätzchen

Der Hund bellt, die kleine Tochter schreit, und die Mutter vergisst den Teebeutel in der Teetasse. Unterbrochen wird dieser Morgen nur ab und an vom surrenden Geräusch der Kaffeemaschine. Ein ganz normaler Samstag nimmt seinen Lauf.

Text: Sarah Sartorius / 16. Dez. 2013

Der Hund bellt, die kleine Tochter schreit, und die Mutter vergisst den Teebeutel in der Teetasse. Unterbrochen wird dieser Morgen nur ab und an vom surrenden Geräusch der Kaffeemaschine. Ein ganz normaler Samstag nimmt seinen Lauf, in der Küche einer ganz normalen Familie. Am Abend soll die Grossmutter zum Essen kommen, es müssen noch ein paar Vorbereitungen getroffen werden, draussen vor dem Fenster weht ein Herbstwind, und irgendein Betrunkener hat sich in der Nacht im Innenhof übergeben. Es passiert nicht viel an diesem Tag – und doch scheint unterschwellig so vieles zu geschehen.

Der einunddreissigjährige Berner Regisseur Ramon Zürcher, der an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin Regie studiert, schafft mit seinem ersten Langspielfilm eine glänzende Ode an die Poesie und die Abgründe des Alltags und ein fragmentarisches Porträt einer Familie. Als Produzent agierte sein Zwillingsbruder Silvan Zürcher. Mit ihrem Werk tingeln die Zwillinge, nach der umjubelten Weltpremiere an der diesjährigen Berlinale, nun von Festival zu Festival und heimsen Preise ein. Entstanden ist der Film während eines Seminars mit dem ungarischen Filmemacher Béla Tarr, von dessen entschleunigtem Erzähltempo auch Zürchers Film beeinflusst scheint. Das merkwürdige Kätzchen erinnert aber ebenso an den entschlackten Erzählstil und die klare Bildsprache der Berliner Schule. Doch was den Film schliesslich auszeichnet, ist, dass er etwas ganz Eigenes schafft.

Das merkwuerdige kaetzchen 02

Wie es dem jungen Regisseur gelingt, von der schnurrenden Katze bis hin zu einem vielsagenden Blick zwischen Schwägerin und Schwager jede Szene scheinbar leichtfüssig zu choreografieren, ist beeindruckend. Das merkwürdige Kätzchen ist in Sequenzen unterteilt, die von einer Serie gefilmter Stillleben unterbrochen werden. Für einmal stehen die Gegenstände, mit denen wir uns umgeben, im Mittelpunkt: das Glas Milch, der hingekritzelte Einkaufszettel, ein Häuflein Orangenschalen. Eine Wehmut umgibt diese ästhetisch in Szene gesetzten persönlichen Symbole der Protagonisten. Was geschieht mit den Dingen, die wir hinterlassen? Ein einziges Musikstück – «Pulchritude» der amerikanischen Band «Thee More Shallows» – dient immer wieder der überhöht dramatischen Untermalung dieser melancholischen Stillleben.

Überhaupt funktioniert der Film zu einem grossen Teil über die formale Ebene: mit ungewohnten Kameraperspektiven – einmal scheint es, als würde der Zuschauer das Geschehen aus der Perspektive der Katze sehen – und einer prägnanten Tonspur. Ein weiterer Kunstgriff sind ungewohnte, theatralische Szenen, Monologe einzelner Figuren, in denen in Rückblenden das Erzählte sichtbar wird. Doch was nach theoretisch-verkopftem Experiment klingt, ist in Wirklichkeit waghalsiges Kino, das trotzdem die liebevolle Figurenzeichnung nicht vergisst. Manchmal herrscht eine kaum auszuhaltende Spannung zwischen den Familienmitgliedern. Etwa in den Begegnungen zwischen der älteren, vorlauten Tochter und der passiv-aggressiven Mutter. Es ist dann auch die Figur der Mutter, die die meisten Fragen aufwirft und ein Geheimnis in sich zu tragen scheint. Das Unausgesprochene wird zum eigentlichen Ereignis. Eine wichtige (Neben-)Rolle spielen – der Filmtitel tönt es an – die Tiere: Neben dem Hund und der Katze verirrt sich auch ein Falter in die Wohnung. Die Tiere werden zu staunenden Zuschauern dieses merkwürdigen Samstags.

Ramon Zürcher gelingt ein eigensinniges und hochoriginelles Kammerspiel, das trotz omnipräsentem Kunstanspruch tief berührt und immer wieder mit verspieltem Humor überrascht.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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