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Karma shadub 01

Karma Shadub

Text: Lara Sascha Bleuler / 16. Dez. 2013

Die erste Einstellung fasst das Verhältnis zwischen Vater und Sohn in ein symbolisches Bild. Der Filmemacher Ramòn Giger fasst den Rücken von Paul Giger in einen Rahmen. Fast schüchtern und aus sicherer Distanz. Der Bogen des weltbekannten Geigenvirtuosen fliegt über die Saiten. Hell leuchtet in der Dunkelheit der Stiftskirche St. Gallen sein stark ergrautes, lose zu einem Pferdeschwanz gebundenes Haar, dann entschwindet er in der Unschärfe. Diese Klammer wird sich am Ende des Filmes schliessen, doch bis dahin führt ein steiniger Weg familiärer Abgründe, voller Geheimnisse und Schmerz. Erklärtes Ziel des Regisseurs ist die Annäherung an den Vater. Die konfliktreiche Dynamik wird gleich zu Beginn offengelegt. «Du hast gesagt, ich soll das Filmdossier der IV schicken, damit sie uns eine Therapie zahlen!», schreit der frustrierte Sohn ins Telefon. Er ist sichtlich aufgebracht, die Kluft zwischen ihm und seinem Erzeuger scheint unüberwindbar. Mit diesem selbstironischen Kniff wird der gegenüber Familiendokumentationen oftmals bemühte Vorwurf, sie dienten nur der “(Eigen-)Therapie”, geschickt vorweggenommen. Ramòn Giger, der bereits mit seinem Erstling Eine ruhige Jacke viel Gespür für Nähe und Distanz zu seinem Protagonisten bewies, setzt hier bewusst Verfahrensweisen der Psychoanalyse ein, um die schwierige Beziehung zu seinem Vater zu ergründen. Erfolg und Scheitern dieses Prozesses sind die zentralen dramaturgischen Scharniere des Films.

Ramòn Giger erblickte in einem abgelegenen Appenzeller Bauernhaus das Licht der Welt. Vater Paul erzählt, wie er damals, weit weg von jeglicher Zivilisation, die Hausgeburt erlebte: «Das ist das grösste Wunder, fast wie Sterben.» Paul komponierte für den Neugeborenen ein Lied, eine wundervoll sinnliche Geigenmelodie, die als musikalisches Leitmotiv durch den Film führt. Die Komposition nannte er, wie seinen Sohn, Karma Shadub – ein tibetischer Name, der «tanzender Stern» bedeutet. Der tanzende Stern will später am liebsten Simon heissen und grenzt sich von seinen esoterischen Eltern ab. Als er fünfzehnjährig, nach einem Aufenthalt in Amerika, zurückkommt, ist der Vater ausgezogen und will die Scheidung. Ramòns Erinnerungen werden von der als traumatisch erlebten Trennung seiner Eltern in ein Vorher und ein Nachher unterteilt; die frühere Kindheit bleibt schwer zugänglich, die naturverbundene Familienidylle liegt wie verschüttet unter einem Berg von Schmerz.

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Der Film ist der Versuch, verhärtete Schichten abzutragen, den Gründen für die familiäre Zäsur nachzuspüren und dem entschwundenen Vater näherzukommen. Ramòn wählt dafür insbesondere die direkte Konfrontation im Gespräch mit Paul, der anfänglich Mühe hat, seinem Sohn zu vertrauen. Er habe Angst, ausgenutzt zu werden, und fürchtet, dass ein Bild von ihm entstehen könnte, das er nicht vertreten kann. Paul formuliert so treffend das Risiko, dem sich jedes dokumentarische Sujet bewusst oder unbewusst stellen muss. Letztlich ist es der künstlerischen Vision des Filmemachers ausgeliefert. Die Überschneidung Regisseur / Sohn sorgt dann noch für eine zusätzliche emotionale Fallhöhe. Karma Shadub lotet dieses Spannungsfeld gekonnt aus. Die Dokumentation der Arbeit des Vaters – einer aufwendigen Inszenierung mit der Tanzkompanie St. Gallen – dient hier nur als Vorwand für die filmische Familienstellung. Wie ein Ritter, der vor dem Kampf seine Rüstung anlegt, schnallt sich Ramòn vor jeder Begegnung eine riesige schwarze Schulterkamera um und richtet sie auf den Vater.

Familienfilmen dieser Art, einem etwas überstrapaziertes Genre auch im Schweizer Dokumentarfilm, ist eine ödipale Grundstruktur eigen. Solche filmischen Abrechnungen drehen sich oftmals im Kreis, gegen den Verdacht, Therapie zum Selbstzweck zu sein, sind sie nicht gefeit. Karma Shadub, am diesjährigen Festival Visions du Réel mit dem Hauptpreis der Jury ausgezeichnet, setzt sich klar von solchen Filmen ab. Nicht nur in seiner künstlerischen Ambition, weit entfernt von wackliger Homemovie-Ästhetik, sondern durch den Mut des Filmemachers, sich selbst zu inszenieren und nicht nur die Eltern an den Pranger zu stellen. Die Gespräche zwischen Vater und Sohn, die Koregisseur Jan Gassmann einfängt, sind von beeindruckender Intimität. Die familiären Muster sind auch hier festgefahren, den Tabuzonen weicht der Vater gekonnt aus: «Was ist nochmals dein Anklagepunkt? Ich habe es vergessen!» In diesen Momenten des Widerstands, wenn der narzisstische Künstlervater einmal mehr zu entkommen versucht, zeigen sich Stärke und Ausdauer des Regisseurs. Von kindlicher Sturheit getrieben umkreist er den Vater, mal sanft, mal fordernd. Die Verweigerungshaltung, das Schweigen von Paul zwingt den in psychoanalytischer Rhetorik geübten Sohn zu immer wieder neuen Strategien, um die Lücken des Familienromans zu füllen.

Aufnahmen von Landschaften des heimischen Appenzells und von Waldspaziergängen werden mit den Tönen unterlegt, die der Vater in seinem selbst gewählten Exil im französischen Chartres auf Kassette aufnimmt. Das humorvoll vertonte Hörspiel erzählt von einer zärtlichen Vaterliebe, die inmitten der Wirren einer Scheidung verloren ging. Auch Ramòns Film ist letztendlich ein Geschenk an den Vater. Der Filmemacher entlässt Paul mit einem versöhnlichen Blick, der Schmerz lässt sich zwar nicht auslöschen, doch es gelingt, loszulassen. Oder – filmisch gesprochen – die Eltern und ihre Geheimnisse werden der Unschärfe überlassen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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