Filmbulletin Print Logo
Avanti 01

Avanti

Die achtundzwanzigjährige Léa filmt mit ihrer kleinen Kamera obsessiv alles um sie herum, mitunter via Spiegel sich selbst beim Filmen. Als ihre Mutter Suzanne vorübergehend aus der psychiatrischen Klinik nach Hause entlassen wird, steht Léa im Gebüsch hinter dem Parkplatz und nimmt aus der Ferne das Gespräch zwischen ihrem Vater und dem Arzt auf. Die Mutter steht dabei – abwesend, gedankenverloren.

Text: Doris Senn / 13. Mär. 2013

Die achtundzwanzigjährige Léa filmt mit ihrer kleinen Kamera obsessiv alles um sie herum, mitunter via Spiegel sich selbst beim Filmen. Als ihre Mutter Suzanne vorübergehend aus der psychiatrischen Klinik nach Hause entlassen wird, steht Léa im Gebüsch hinter dem Parkplatz und nimmt aus der Ferne das Gespräch zwischen ihrem Vater und dem Arzt auf. Die Mutter steht dabei – abwesend, gedankenverloren. Léa bleibt im Verborgenen. Als sie schliesslich über Umwege zu Hause ankommt, ist die Atmosphäre angespannt: Der Vater ist wütend, enttäuscht, hätte Léa doch eigentlich die Mutter abholen sollen. Léa wiederum wirkt verschlossen und verletzlich, entzieht sich. Am Folgetag soll sie das Haus der Grossmutter räumen, die ins Heim transferiert wurde. Léa will das gemeinsam mit ihrer Mutter und deren Schwester Catherine tun. Es wird eine Reise in die Vergangenheit: Kleider, Möbel, Erinnerungsstücke, immer wieder Ausschnitte aus Familienfilmen (aus Emmanuelle Antilles eigener Kindheit) – aber auch eine Flucht. Anstatt ihre Mutter wieder in die Klinik zu bringen, brennt Léa mit ihr durch: über die Autobahn, durch den Wald, zu einem Lokal am Fluss, wo Suzanne in ihrer Jugend oft rumhing. Ein Roadmovie, das die beiden, Tochter und Mutter, für kurze Zeit näherbringt – und Léa verstehen lässt, dass sie die Zeit nie wieder wird zurückdrehen können.

Vieles in avanti evoziert Antilles bisheriges Schaffen: Ihre Fotoserien, Installationen, Videos und Filme etablierten schon früh ein wiederkehrendes Arsenal an Figuren, Themen, Handlungen und Konstellationen, an Farben, Dekors und Locations. So spielt oft etwa Antilles Mutter mit, auch ihre Tante, ihre Grossmutter oder Freunde. Thema sind die vielfältigen emotionalen Verstrickungen untereinander – sehr schön veranschaulicht etwa in Antilles Video Strings of Affection, wo ihre betagte Mutter Räume mit einer Schnur verspannt und sie so zunehmend zu einem – wenn auch feingesponnenen – Gefängnis werden lässt. Aber auch die Verbundenheit mit der Erde, dem Wald als physischem Lebensraum setzt Antille immer wieder ins Bild. Oft scheinen die Protagonist/innen wie in eine Kinderwelt zurückversetzt, streifen durch das Walddickicht, tanzen durch gelbe Sonnenblumenfelder, lassen Jetzt und Gestern, Traum und Wirklichkeit ineinander übergehen. Die Figuren – oft sind es zwei ähnlich aussehende Frauen, mutmasslich Schwestern, oder Mutter-Tochter-Konstellationen – versichern sich ihrer selbst und ihrer unmittelbaren Umwelt: Mit ihren Händen berühren sie immer wieder Haut, Haar, Erdboden, Schnee, die Textur von Kleidern … Auch die Örtlichkeiten ähneln sich durch die verschiedenen Werke hindurch: etwa das Einfamilienhaus mit dem bieder-rustikalen Interieur, die Hütte im Walddschungel oder am See, das Auto ebenso wie die Autobahn, die Raststätte, die Autobahnbrücke – Ur-Orte und Un-Orte zugleich.

Avanti 02

Antilles liebstes Thema ist die Familie. Eine ihrer bekannteren Arbeiten heisst «Family Viewing» – in Anlehnung an den gleichnamigen Film von Atom Egoyan. Avanti weist viel Ähnlichkeiten mit ebendiesem Werk auf. Dieser frühe autobiografisch inspirierte Film des kanadischen Filmregisseurs handelt von einer ursprünglich armenischen und nach Kanada emigrierten Familie, bestehend aus Vater, dessen Geliebter und dem fast erwachsenen Sohn. Die Grossmutter liegt stumm in einem Heim, in das sie ihr Sohn steckte und vergass und wo ihr Enkel sie fast täglich besucht. Während der Vater systematisch alte Familienaufnahmen überspielt, entwendet der Sohn die Videokassetten, um sie dann seiner Grossmutter vorzuspielen – als Relikte einer längst vergangenen glücklichen Zeit. Die Mediatisierung von Realität, Gegenwart und Vergangenheit, die Erinnerung, die Komplizenschaft zwischen Sohn und Grossmutter und ihre abenteuerliche “Errettung” aus dem Altersheim – sehr vieles klingt in Antilles Film an, wo Léa vorübergehend ihrer psychiatrisierten Mutter ihre Freiheit wiedergibt und mit ihr in die Vergangenheit eintaucht. Die französische Darstellerin Nina Meurisse, bekannt geworden mit Frédéric Mermoud (L’escalier, Complices) und Ursula Meier (Les épaules solides), spielt mit Bravour die junge Erwachsene Léa, auf der Suche nach sich selbst, nach ihren Wurzeln. Hanna Schygulla als Léas Mutter Suzanne spielt fragil, verwundbar, dann aber auch wieder naivhemmungslos und unverblümt – eine schillernde Rolle zwischen Figur und Persona. Antille liebt diese Verschiebungen von Realität und Fiktion, die sie auf ganz unterschiedliche Art immer wieder in Szene setzt. Das Intro zu Avanti ist diesbezüglich ein kleines Meisterstück. Antille fügt Homemovies aus ihrer Kindheit in unmittelbare Nähe zur Spielfilmhandlung: Hanna Schygulla wird so zur unmittelbaren schauspielerischen “Verlängerung” von Antilles junger Mutter in den Familienfilmen. Zusätzlich unterstrichen mit Kleidungsstücken, die in den Super-8-Filmen von Antilles Mutter getragen werden und im Kleiderschrank von Léas Mutter wieder auftauchen …

Avanti zelebriert – wie viele andere Werke Antilles – eine weibliche Genealogie und einen verstörenden Kosmos, der um einiges einfacher zu entziffern ist, wenn man ihr bisheriges Werk kennt. Dieses ist – ganz im Gegensatz zum Œuvre einer anderen bedeutenden Schweizer Videokünstlerin, Pipilotti Rist – vorwiegend melancholisch und düster. Dabei ist Avanti durchaus Antilles bislang “heiterstes” Werk – nicht zuletzt weil der Film dank der eigentlichen Erzählhandlung eine gewisse Nähe und Empathie zu den beiden Hauptfiguren zulässt und dabei auch immer wieder quentchenweise Unbeschwertheit.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

Weitere Empfehlungen

Kino

23. Apr. 2014

The Reunion / Återträffen

«Das Klassentreffen» müsste der Film auf Deutsch heissen, der zunächst davon handelt, wie die als Letzte eintreffende Anna ihren ehemaligen Klassenkameraden die Feier des Wiedersehens zwanzig Jahre nach Schulabschluss damit vergällt, dass sie bei Tisch aufsteht und zu erzählen beginnt, wie sie sich während der ganzen gemeinsam verbrachten neun Jahre gefühlt habe: ständig gemobbt, erniedrigt, bedroht und ausgestossen.

Kino

15. Jan. 2018

Three Billboards Outside Ebbing, Missouri

Eine Frau mit einer Riesenportion Wut im Bauch. Frances McDormand hat für diese Rolle den Golden Globe Award erhalten, während der Film selbst als bestes Drama ausgezeichnet wurde.

Kino

01. Dez. 1999

Die Zeit mit Kathrin

Aus dem Schwarz leuchten nachtblau Vorspann und Titel. Die Zeit mit Kathrin. Ein Film von Urs Graf. Und, noch im Dunkel, Musik. Langsame, helle Töne, dann dunkler. Nachdenklich, zärtlich. Leichte Bewegungen, Raum öffnend. Klänge wie Spuren, erste Schritte.