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¡Vivan las antipodas! / Where the Condors Fly

Nach langer Schaffenspause kehrt Victor Kossakovsky mit einem ambitiösen Werk zurück: ¡Vivan las antipodas! lässt sich als reizvolles Projekt an, in dem der renommierte Dokumentarfilmer sich vornimmt, anhand von Antipoden (s)eine Vision der Welt zu skizzieren. Doch der anerkannter Meister des formalen Minimalismus holt zur grossen Geste aus, um immer kleinteiliger zu werden und schliesslich grandios zu scheitern. Einen eigenwilligen Einblick hinter die Kulissen des ehrgeizigen Projekts gibt Where the Condors Fly des deutsch-chilenischen Regisseurs Carlos Klein, der sich Kossakovsky für dessen Film als kundigen Führer für Patagonien anschloss.

Text: Doris Senn / 13. Mär. 2013

Nach langer Schaffenspause kehrt Victor Kossakovsky mit einem ambitiösen Werk zurück: In ¡Vivan las antipodas! lotet der russische Dokumentarfilmer die Erdkugel anhand topografischer Gegensatzpaare aus. Er beginnt mit einem ärmlichen Haus im argentinischen Entre Rios – nomen est omen – und zwei Brüdern, die dort seit eh und je eine Brücke instand halten. In der restlichen Zeit versuchen die beiden Eigenbrötler, aus dem Froschquaken das Wetter vorherzusagen, sie ziehen über die seltenen Passanten her oder – wahrscheinlich auf Anweisung Kossakovskys – sinnieren über die Chinesen, die am ihnen entgegengesetzten Ende der Erdkugel leben. Die Kamera dreht sich und zeigt uns, zuerst auf dem Kopf stehend, Schanghai und dann ein gigantisches Werk, das ebendort am Entstehen ist: den Brückenschlag über einen riesigen Wasserarm. Menschen wuseln ameisengross auf der Baustelle, während dicker Smog das Drumherum zu verschlucken droht. Die Metropole, in der Menschen dicht an dicht auf Mofa und Fahrrad aus einer Fähre quellen oder ihre kleinen Gefährte mit geschlachteten Schweinchen vollladen, steht im grösstmöglichen Gegensatz zur Idylle in Entre Rios, dessen Brücke gerade mal von einer Handvoll abgewrackter Autos überquert wird. Dies ist das erste Antipodenpaar, dem Kossakovsky drei weitere folgen lässt: Patagonien und der Baikalsee, ein Buschcafé in Botswana und die Lavalandschaft Hawaiis sowie eine spanische Bergregion und ein einsamer Strand in Neuseeland, an dem ein Wal gestrandet ist.

Ein Zitat aus Lewis Carrols «Alice in Wonderland», in dem diese sich vorstellt, in einen Kaninchenbau zu fallen und auf der anderen Seite der Erde wieder herauszukommen, um sich dann zu fragen, ob die Menschen dort wohl auf dem Kopf wandeln, leitet ¡Vivan las antipodas! ein. Kossakovsky liebt es, seine Filme, ausgehend von einem knappen “Programm” zu realisieren. So porträtierte er 1997 in Sreda 19. 7. 1961 Menschen, die am selben Tag wie er in Leningrad geboren wurden, oder er filmte in Tishe! (2003) ein Jahr lang aus seinem Schlafzimmerfenster die darunterliegende Petersburger Strasse und kreierte so eine subtile Realsatire über den russischen Alltag.

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¡Vivan las antipodas! nun lässt sich als durchaus reizvolles Projekt an, in dem der renommierte Dokumentarfilmer sich vornimmt, anhand von Antipoden (s)eine Vision der Welt zu skizzieren. Doch Kossakovsky – ein anerkannter Meister des formalen Minimalismus – holt für sein jüngstes und aufwendiges Werk zur grossen Geste aus, um immer kleinteiliger zu werden und schliesslich grandios zu scheitern. So begnügt er sich nicht mit dem Porträtieren entgegengesetzter Landstriche und menschlicher Universen, sondern setzt einen ganzen Apparat ausgeklügelter Hilfsmittel in Gang, um die Schauplätze in immer atemloserem Rhythmus miteinander zu verbinden und ein verwirrliches Memory-Spiel von Gegensatzpaaren zu kreieren. In seinem Bemühen um ein kunstvolles Geflecht wiederholt er endlos das Motiv der Spiegelung – in der abgebildeten Realität, aber auch, wenn er die porträtierten Antipoden wie Spiegelbilder unmittelbar aneinanderheftet. Mit unzähligen Matchcuts verbindet er das Kleine im Grossen – im Wechsel von Makroaufnahmen zu Normalansichten und von Verkantungen zu Horizontalen. Und damit nicht genug, lässt Kossakovsky auch auf der Tonebene vieles an Überkreuzungen laufen und verbindet Bild und Musik im Kontrast – wir lauschen dem Dialog von Menschen, die im Bild weit weg sind, oder hören Musik aus Hawaii zu Bildern aus Botswana –, um schliesslich Bilder und Musikstücke zunehmend konfus durcheinanderzuwirbeln.

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Einen eigenwilligen Einblick hinter die Kulissen des ehrgeizigen Projekts gibt Where the Condors Fly des vierzigjährigen deutsch-chilenischen Regisseurs Carlos Klein. Kossakovsky hatte für seinen Film einen kundigen Führer für Patagonien gesucht und war dabei auf Klein gestossen. Dieser wiederum steckte in einer persönlichen Schaffenskrise und nutzte das Projekt für eine Reflexion über sich selbst und sein Tun – im Schlepptau des grossen Meisters.

In Where the Condors Fly nimmt Klein uns mit ans «Ende der Welt», wo er mit Kossakovsy auf Rekognoszierung geht. Wir blicken durch dessen Kamera, mit der er die Welt kopfstehen lässt, während wir ihn aus dem Off schimpfen hören. Wild zoomt Kossakovsky vorwärts, rückwärts, verkantet die Kamera, schreit «Go!» und «Stop!», während unser Blick unweigerlich von ein paar hellblauen Eisbergwürfeln in der mächtigen Landschaft angezogen wird. Klein gibt uns im Lauf des Films immer wieder die Sicht frei auf die grossartigen Gegenden, die Kossakovsky filmt, zeigt aber auch den Mann hinter der Kamera: Wir sehen, wie der russische Regisseur bei der Aufnahme des sibirischen Frauenchors vor Rührung weint, wie er andächtig vor der Kamera sitzt, die Augen auf ein paar weisse Gänse in einem lichtdurchfluteten Stall gerichtet, oder überschwänglich auf unerwartete Trouvaillen in seinen Rushes reagiert. Where the Condors Fly ist aber auch Anschauungsunterricht zum dokumentarischen Filmemachen: Da werden minuziös Bildausschnitte bestimmt, Kostenverhandlungen mit der Produzentin geführt oder die Ackererde von Kossakovsky persönlich umgewühlt, um ein bestimmtes Rot in die farbliche Bildkomposition zu bringen. Und wir erfahren: Dokumentarfilm ist aktives Gestalten von Realität. Besonders bei Victor Kossakovsky. Und so gewährt Kleins Filmporträt nicht nur Einsicht in die Persönlichkeit des genialischen Dokumentarfilmers, sondern zeigt auch, wie dieser – ausgehend von seiner Vision – die Welt für den Film neu erschafft.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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