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A perdre 01

A perdre la raison

Wieder einmal ist die Kinowelt mit dysfunktionalen Familien bevölkert. Warum? Weil diese über unsere Zeit und deren sozialpsychologische Verfassung etwas aussagen? Rein dramaturgisch gesehen sind solche Familien dankbare Beziehungserhitzer und Schauspielerfutter dazu.

Text: Martin Walder / 02. Mär. 2013

Wieder einmal ist die Kinowelt mit dysfunktionalen Familien bevölkert. Warum? Weil diese über unsere Zeit und deren sozialpsychologische Verfassung etwas aussagen? Rein dramaturgisch gesehen sind solche Familien dankbare Beziehungserhitzer und Schauspielerfutter dazu. So waren wir neulich schnell einmal beeindruckt von der typisch deftigen britischen Unzimperlichkeit in Rufus Norris’ Erstling Broken – nur dass diese sich in der Akkumulation gar schnell verbrauchte. Als habe einer mehr Mike Leigh sein wollen, als dieser selber ist. Oder wir haben uns seufzend ergeben ins zähe Drama von Hans-Christian Schmids papierener Krankheitsstudie Was bleibt.

Und um ein aktuelles Beispiel aus dem hiesigen Filmschaffen zu nennen: Es ist, als habe Séverine Cornamusaz nach ihrem vielbeachteten starken Erstling Cœur animal noch mehr auf die Karte «heftiges Kino» gesetzt. Jedenfalls erscheint in Cyanure die Geschichte eines Vierzehnjährigen, der sich die Liebe seines Vaters nach dessen Rückkehr aus dem Knast ertrotzen will, so sehr zugespitzt, dass psychologische Plausibilität mehr und mehr auf der Strecke bleibt.

Die Latte liegt jedenfalls hoch, wo Leigh, Loach, die Dardennes oder – wie nun in Joachim Lafosses in A perdre la raison – auch ein Cassavetes (A Woman Under the Influence) Referenzen sind. Der siebenunddreissigjährige belgische Filmemacher macht kein Hehl daraus, von dysfunktionalen Familien fasziniert zu sein. In A perdre la raison hat er aus dem Fait divers eines mehrfachen Kindsmordes in Belgien vor fünf Jahren eine dramatische Geschichte konstruiert und sie mit seinen beiden Koautoren in ein interkulturelles maghrebinisch-belgisches Adoptiv-Familiensetting gepflanzt.

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Mounir ist ein hübscher, etwas weicher junger Mann marokkanischer Herkunft. Seine Schwester ist die Frau des Docteur André Pinget, eines bulligen älteren Arztes in Belgien, lebt aber von diesem getrennt. Pinget hat Mounir bei sich aufgenommen, beschäftigt ihn und beherbergt dann auch seine Freundin Murielle gleich mit. Es kommt das erste Kind des glücklich verliebten Paars, dann das zweite, das dritte und vierte … alle unter Pingets Dach. Da freilich ist die seltsame Familie längst in die Krise geschliddert. Es ist erst einmal die Krise unter einer erstickenden, autoritären Fürsorglichkeit. Denn der Docteur ist engagiert und generös. Und er ist omnipräsent. Wie ein Schatten taucht er just immer dann auf, wenn das Familienleben mit den süssen kleinen Wuschelköpfen und Babys sich in seiner guten Stube turbulent gestaltet.

Die junge Mutter ist überfordert, möchte weg, gegen den Willen des Docteurs und damit leider auch Mounirs. Sie phantasiert sich in eine eigene heile Welt ausgerechnet in Marokko hinein; die Realität kommt ihr mehr und mehr abhanden, die seelische Not wird unerträglich, die Katastrophe, deren Resultat schon in den ersten Einstellungen vorweg genommen worden ist, unabwendbar. Zunehmend harte Kost wird uns hier serviert, einfühlsam kühl und diskret begleitet von der Musik von Alessandro Scarlatti. Der mit unbarmherzigen Grossaufnahmen und mit Schärfe und Unschärfe arbeitende Film sperrt seine Protagonisten in ein ausladendes Cinemascope, was das Klaustrophobische aber nicht schwächt und weitet, sondern gerade noch betont. Der Fortgang der Geschichte ist unerbittlich; Zeitsprünge sind dabei von uns zu erschliessen, aus dem Alter der Kinder zum Beispiel. So weit, so interessant. Formal kann man A perdre la raison Kohärenz und Strenge nicht absprechen.

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Inhaltlich wird alles Explizite vermieden: Der gute Docteur, Schlüsselfigur, bleibt undurchsichtig, als bahne sich ein Beziehungsthriller an. Aus welchen Motiven handelt er? Sind diese in seiner eigenen Paargeschichte begründet? Sind soziales Gewissen oder purer Eigennutz seine Triebfeder? Verschwiegene erotische Zuneigung zu seinem aparten Schützling, oder dann zu dessen junger Frau? Alles ist möglich, alles wird angetippt und dann in der Schwebe belassen, auch in Bezug auf Mounir und Murielle. Und je länger der Film dauert, desto mehr ertappt man sich bei der Frage: Was eigentlich will mir hier erzählt werden? Vielleicht könnte man so sagen: Dieser Film verwechselt Offenheit und elliptische Auslassung mit Vieldeutigkeit. So führen unsere Nah-Beobachtungen nicht zur Genauigkeit sozial verankerter Biografien, ergründen das schlingernde Familiensystem nicht wirklich. Die Figuren bleiben bei aller darstellerischen Präsenz seltsam flach, und eher schleicht sich das ungute Gefühl in unsere Wahrnehmung, hier werde auch gar nach Rezept erzählt. Niels Arestrup und Tahar Rahim – sie waren das atemberaubende «Vater-Sohn»-Paar aus Un prophète, und die in Cannes preisgekrönte Emilie Dequenne war bei den Frères Dardenne die Rosetta. Aber um wie viel genauer sind bei Audiard oder bei den Dardennes (L’enfant und Le gamin au vélo) Ambivalenz und Vieldeutigkeit gestaltet – und um wie viel härter und nachhaltiger sind deshalb deren Filme.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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