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Wadjda

In Saudiarabien gibt es, so unglaublich das klingen mag, keine Kinos, von einer Filmindustrie ganz zu schweigen. Öffentliche Zurschaustellung von Kunst ist verboten. Das macht auch das Drehen in dem Land äusserst schwierig und ist ohne einflussreiche Helfer gar nicht denkbar.

Text: Michael Ranze / 24. Apr. 2013

Wadjda, ein zehnjähriges Mädchen aus einem Vorort der saudiarabischen Hauptstadt Riad, ist ein kleiner Dickkopf, und man sieht es sofort: Ständig erlaubt sie es, dass ihr Kopftuch in unangemessener Weise verrutscht. Sie spricht zu laut, sodass Männer sie hören können. Sie lacht im Unterricht, anstatt aufzupassen. Sie hört heimlich Popmusik, obwohl sie in Saudiarabien verboten ist. Dabei ist Wadjda gar nicht mal bösartig, aufsässig oder hinterlistig. Gelegentlich trägt sie ein T-Shirt mit dem stolzen Aufdruck: «I am a Great Catch», und das ist sie ganz sicher. Wadjda ist ein lebensfreudiges, natürliches Mädchen an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Und doch versteht sie nicht, warum sie nicht das tun darf, was die Jungen dürfen. Wadjda will nicht mehr unsichtbar sein, und so gerät ihr Wunsch nach einem Fahrrad nicht nur zu einem Symbol für Mobilität, sondern auch für Freiheit.

In Saudiarabien gibt es, so unglaublich das klingen mag, keine Kinos, von einer Filmindustrie ganz zu schweigen. Öffentliche Zurschaustellung von Kunst ist verboten. Das macht auch das Drehen in dem Land äusserst schwierig und ist ohne einflussreiche Helfer gar nicht denkbar. So bedankt sich die Regiedebütantin Haifaa Al-Mansour im Abspann bei Prinz Al-Waleed Bin Tal, einem reichen Geschäftsmann, als Koproduzenten sind die deutsche Razor Film sowie die regionalen Fernsehsender NDR und BR genannt, nicht zu vergessen die Initiatoren des Projekts wie zum Beispiel das Sundance Institute oder der Hubert Bals Fund. Dass eine saudiarabische Frau, die im Ausland – Kairo und Sydney – das Handwerk erlernen musste, in ihrer Heimat einen Film dreht, den ersten saudiarabischen Film überhaupt, ist darum ein kleines Wunder, zumal sie als Frau ein männliches Team geleitet hat (und zwar aus der Ferne oder aus einem Lkw heraus, weil Mann und Frau in Saudiarabien nicht zusammen arbeiten dürfen). Dass es dann auch noch um die Stellung der Frau in dieser Gesellschaft geht, um Ausgrenzung, Ächtung und Unterdrückung, macht diesen Film so besonders.

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Wadjda lebt zusammen mit ihrer Mutter in einem kleinen Appartement, während der eigentlich fürsorgliche und liebevolle Vater in der Nachbarschaft bei seinen Eltern wohnt und nur gelegentlich vorbeischaut. Darum fürchtet die Mutter auch, dass er bald eine Zweitfrau heiraten könnte, die ihm den lange ersehnten Sohn schenken soll. Für das Wohl ihres Mann ist sie bereit, alles zu tun. Sie hat, quasi als Gegenpol zu ihrer Tochter, die Restriktionen der islamischen Gesellschaft verinnerlicht und orientiert sich bedingungslos an den Bedürfnissen des Mannes. Wadjda hat hingegen ganz andere Sorgen. Sie träumt von einem eigenen Fahrrad, um mit ihrem Freund Abdullah um die Wette rasen zu können. Da gibt es nur ein Problem: Fahrrad zu fahren ist Frauen in Saudiarabien verboten, die Mutter wird Wadjdas Wunsch nie unterstützen, weder ideell noch finanziell. Gerade als das junge Mädchen die Hoffnung schon aufgeben will, hört es von einem Koran-Rezitationswettbewerb, bei dem ein Geldpreis ausgeschrieben ist. Obwohl Wadjda im Unterricht bislang nicht durch Fleiss und Aufmerksamkeit aufgefallen ist, im Gegenteil sogar, widmet sie sich fortan, zur Verwunderung ihrer Lehrerin, die ihre eigene Frustrationen mit rigider Strenge kompensiert, intensiv dem Koranstudium, sie büffelt und paukt, bis jedes Wort sitzt. Denn: Die Konkurrenz ist gross, und der Wunsch nach dem Fahrrad ist ihr zur alles beherrschenden Obsession geworden.

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Dass das intensive Studium des Korans zur Erfüllung eines doch sehr weltlichen Wunsches werden kann, ist eine kleine ironische Spitze, die Haifaa Al-Mansour eher beiläufig und nebenbei setzt. Der Regisseurin geht es eher darum, die Isolation der saudischen Frauen, egal ob jung oder alt, zu thematisieren. Sie leben, wenn man so will, zwei Leben. Eines, nur mit anderen Frauen, zu Hause, das andere, bis zur Unkenntlichkeit verhüllt, auf der Strasse. In beiden Fällen sind sie unsichtbar, den Blicken der Männer entzogen, aber nicht ihrer Kontrolle. Die Innenräume, in denen der Film spielt, werden so zu Gefängnissen, dunkel ausgeleuchtet und fast schon klaustrophobisch eng geschnitten. Aber auch öffentliche Orte wie zum Beispiel Schulen, Moscheen oder Höfe bieten keinen Fluchtpunkt. Sie sind von hohen Mauern umgeben, es gibt kein Entrinnen. Alles muss heimlich stattfinden – eine schnell gerauchte Zigarette auf dem Balkon, der vermittelte Austausch von Briefen, die sich zwei Verliebte geschrieben haben. Die Szenen, in denen Wadjda auf offener Strasse im gleissenden Sonnenlicht mit Abdullah spielt und auch mal sein Fahrrad benutzen darf, gehören darum zu den unbeschwertesten des Films. Wadjda testet die Grenzen aus, die die arabische Gesellschaft Frauen setzt. Sie leistet Widerstand im Kleinen. Dabei vermeidet es Al-Mansour, die Männer an den Pranger zu stellen. Sie sind genauso in ihren gesellschaftlichen Rollen mit Forderungen und Erwartungen gefangen wie die Frauen – auch wenn sie sonst alle Möglichkeiten haben. Wadjda verletzt keine Gefühle der Saudis, die Regisseurin ist nicht auf Konfrontation aus.

Haifaa Al-Mansour hat – trotz ihres dringenden Anliegens – einen einnehmenden, charmanten, handwerklich makellosen Film inszeniert. Doch alle Bemühungen wären nichts ohne die charismatische Hauptdarstellerin Waad Mohammed. Wie sie zwischen Trotz und Gehorsam changiert, zwischen Kummer und Lebensfreude, zwischen Naivität und Realitätssinn – das ist bewundernswert. In Saudiarabien darf der Film nicht gezeigt werden.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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