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Chantrapas 01

Chantrapas

Otar Iosseliani hatte 1982 seine Heimatstadt Tiflis verlassen und ging nach Paris. Der grössere Teil seiner Filme entstand dort. Für Chantrapas kehrte er 2010 nach Tiflis zurück, zum ersten Mal seit langen Jahren. Er erzählt von einem jungen Mann, Nicolas, einem Filmemacher, dessen Film verboten wird, der Tiflis verlässt und nach Paris geht.

Text: Klaus Eder / 31. Juli 2013

Otar Iosseliani hatte 1982 seine Heimatstadt Tiflis verlassen und ging nach Paris. Der grössere Teil seiner Filme entstand dort. Für Chantrapas kehrte er 2010 nach Tiflis zurück, zum ersten Mal seit langen Jahren. Er erzählt von einem jungen Mann, Nicolas, einem Filmemacher, dessen Film verboten wird, der Tiflis verlässt und nach Paris geht. Das ist auch Otar Iosselianis Geschichte. Sein Film pastorale, 1975 entstanden, war sechs Jahre lang verboten und konnte erst 1982 an der Berlinale gezeigt werden. Der Erfolg in Berlin mag ihn ermutigt haben, nach Paris zu emigrieren. Obwohl es Parallelen zu Iosselianis Leben gibt, ist Chantrapas kein autobiografischer Film.

Das Tiflis Otar Iosselianis ist ein liebenswertes Chaos, nicht anders als in seinen frühen, in Georgien gedrehten Filmen. Ein heruntergekommener, aber gemütlich bewohnbarer Ort, gesehen mit Melancholie und Nostalgie. Man trinkt, man macht Musik, man rauft sich. Und begrüsst sich mit einem Handschlag. Wenn man noch jung ist, ein Kind (zu Beginn blickt Iosseliani auf die Kindheit seines Protagonisten zurück), klaut man auch schon mal Ikonen (die man hinterher, von Erwachsenen freundlich ermahnt, zurückgibt). Die Familie geht einem auf die Nerven. Der Grossvater, die Grossmutter des angehenden Filmemachers sind lieb gezeichnet und gleichzeitig fragil, vertrottelt, wie aus einer anderen, einer altmodischen, einer vergangenen Epoche.

Chantrapas 02

Die Szenen aus dem georgischen Alltag sind von einer bewundernswerten Leichtigkeit und Musikalität, wie choreografiert. Sie sind genau komponiert und von einer beweglichen Kamera festgehalten. Sie wirken fast, als seien wir in einem Stummfilm, auch wenn es Geräusche gibt, Dialoge, Musik. Diese Dialoge informieren nicht, schon gar nicht über eine Handlung, die Iosseliani noch nie interessiert hat. Sie gehören zu einem Ballett der Geräusche. Manchmal hat das nahezu den Charakter von Slapstick: etwa wenn die Kamera auf einen Balkon blickt, auf dem ein kleines Orchester spielt, auf ein Fenster und zu einem Jungen am Cello schwenkt, und weiter auf die Strasse, auf der ein Offizier in pittoresker Uniform zwei Damen die Hand küsst, weitergeht, hinter einem Baum von einer Bombe in die Luft gejagt wird. Solche Szenen belegen eine schöne Freiheit der Erzählung. Mit Schauspielern lässt sich dieser Eindruck vermutlich nicht erreichen, Iosseliani hat den Film mit Laien besetzt.

Dann Paris. Es sieht wie Tiflis aus. Was umso erstaunlicher, umso bewundernswerter ist, als Paris von jemand anderem an der Kamera aufgenommen wurde als Tiflis. Die Uniformen sind jetzt anders, die Menschen aber sind die gleichen. Dieselbe Leichtigkeit der Charakterisierung, dieselbe Musikalität der Komposition. Dieser Blick auf seine Wahlheimat ist nicht neu. Otar Iosseliani nahm schon immer eine georgische Atmosphäre, einen georgischen Blick auf die Welt, seine Phantasie, seine Lässigkeit in seine französischen Filme mit.

Nicolas hält sich mit verschiedenen Jobs über Wasser, als Strassenkehrer, als Tierpfleger im Zoo. Und erhält die Chance, einen Film zu machen. Hier wie dort, in Tiflis wie in Paris, geschieht jetzt dasselbe: Der junge Filmemacher sieht sich von Bürokraten umgeben, die Einfluss auf seinen Film nehmen wollen. In beiden Schneideräumen, hier wie dort, wird er vor die Tür gesetzt, werden seine Filmstreifen zu Heu verarbeitet und ein Film aus Resten zusammengeschnipselt. In Tiflis ist es die Kulturbürokratie des noch sozialistischen Landes, der Film weicht für sie zu sehr von Norm und Ideologie ab und ist somit nicht sowjetisch genug. In Paris sind es Produzenten (darunter einer, den der Komödiant und Filmemacher Pierre Etaix spielt), sie halten den Film für einen kommerziellen Reinfall und für zu wenig antisowjetisch. Was diese Bürokraten tun, gleicht sich: Sie versuchen, eine unabhängige und kreative Arbeit zu verhindern. Sie üben Zensur. Das mag in Frankreich, dem gelobten Land der Künstler und ihrer Freiheiten, dem Hort der Demokratie, sogar um eine Spur böser sein als in der Heimat.

Dass Iosseliani die Zensur für ein allgegenwärtiges Übel hält, macht er bereits in den ersten Szenen deutlich. Da zeigt Nicolas, der angehende Filmemacher, einer Schulkollegin Ausschnitte aus seinem Film (die Szenen stammen offensichtlich aus einem der ersten Kurzfilme von Iosseliani aus dem Jahr 1959) – und diese ehemalige Schulkollegin entscheidet inzwischen über die Zensur an Filmen und rät ihm, “taktisch” mit ihren Kollegen von der Zensur umzugehen. Das ist für Otar Iosseliani und seine Künstlerfiguren gewiss der falsche Rat, denn in Fragen der Kunst kann es keine Taktik, keine Kompromisse geben.

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Chantrapas ist ein Film über das Filmemachen. Man sieht, wie ein Film gedreht wird. Man sieht Szenen aus einem Film im Film. Man sieht den Regisseur hinter der Kamera, im Gespräch mit seinen Schauspielern, am Schneidetisch. Wenn es stimmt, dass jeder Filmemacher irgendwann einmal einen Film über sich selbst und das eigene Milieu dreht, dann ist Chantrapas Iosselianis Otto e mezzo, und Nicolas ist sein Alter Ego. Dennoch ist nicht das Filmemachen sein Thema. Das ist vielmehr, viel grösser, die Freiheit der Kunst, und ist die Schwierigkeit, wenn nicht Unmöglichkeit, diese Freiheit angesichts einer bitteren Realität durchzusetzen. Gegen Ende des Films wird Nicolas von einer Meerjungfrau ins tiefe Wasser gelockt. Die Welt, so wie sie ist, in Tiflis, in Paris, die Welt der Ideologien oder die Welt des Geldes, ist nicht gut für die reine Kunst.

In einem frühen Film, es war einmal eine Singdrossel (1970 in Tiflis gedreht), gibt es einen jungen Mann, der sein Leben geniesst. Er macht nichts, tut dies aber hingebungsvoll. In einem Opernorchester spielt er die Trommel, und er fällt uns auf, weil er stets nur Sekunden vor seinem Trommelwirbel zum Ende des Balletts in den Orchestergraben eilt. Dieser Mann ist ein Träumer. Solch ein Träumer ist auch Nicolas. Chantrapas ist eine aus dem Französischen («ne chantera pas») ins Russische übernommene Bezeichnung für jemanden, der zu nichts gut ist. Ein Taugenichts. Wie Nicolas. Der allerdings genau weiss, was er will: einen Film machen, und zwar so, wie er ihn machen will.

Er scheitert. Als sein Film in Paris Premiere hat, verlassen die Zuschauer das Kino. Das Dumme ist, dass die Produzenten also recht hatten. Zu Beginn des Films sehen wir ein paar Blumen auf einem Feld, über die mehrmals eine Strassenwalze rollt, bis die Blumen zermantscht sind; dann wird Asphalt darübergegossen (die Szene stammt aus dem Kurzfilm Lied über eine Blume von 1959). Die Metapher zeigt, dass Iosselianis Sympathien auf der Seite der Blumen sind, nicht auf der Seite des Fortschritts.

Einmal heisst es im Film: «Wie immer geht alles schief.» Es geht schief – aber auf Otar Iosselianis wundervolle und phantastische Weise.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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