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Religieuse 01

La religieux

Guillaume Nicloux und sein Koautor Jérôme Beaujour haben Diderots Briefroman in klassischer Manier als Rückblende adaptiert. Das Martyrium, das Suzanne in verschiedenen Klöstern, unter drei Äbtissinnen und auf je unterschiedliche Weise, erleidet, ist zu Beginn des Films eine Vorgeschichte, die chronologisch aufgerollt wird.

Text: Gerhard Midding / 25. Sep. 2013

Mit Blick auf den bevorstehenden dreihundertsten Geburtstag Denis Diderots begab sich der Literaturkritiker Tilman Krause unlängst auf eine Reise zu dessen Lebens- und Wirkungsstätten. Er suchte seinen Geburtsort auf, Langres in der Haute-Marne, und überprüfte sodann, welche Spuren der Leitstern der französischen Aufklärung in Paris hinterliess. An beiden Orten stellte er fest, dass sich Diderots Leben jeweils in eng begrenzten Universen zutrug. In der Provinz beschränkte sich der Radius seiner Aktivitäten wesentlich auf sein Geburtshaus, in der Hauptstadt entfernte er sich kaum je aus Saint Germain. Das war auch nicht nötig, schliesslich wusste sich Diderot hier im Brennpunkt seiner Epoche.

Eingeengt wird er sich nicht gefühlt haben. Diese Mikrokosmen waren welthaltig. Im Kloster von Troyes, in das sein Vater den Dreissigjährigen für einige Monate steckte, und während der Festungshaft, zu der er einige Jahre später verurteilt wurde, wird das gewiss anders gewesen sein. Dieses lebensgeschichtliche Schillern Diderots zwischen geistiger und räumlicher Freizügigkeit findet einen spannungsvollen Niederschlag in der jüngsten Verfilmung seines Romans «La Religieuse». Die Handlung spielt fast ausschliesslich in Enklaven. Die Klöster, in die Suzanne Simonin von ihrer Familie aus ökonomischen Gründen verbannt wird, muten indes geräumig an. In ihnen kann die Luft trotz allem zirkulieren. Selten nur blickt die Kamera über sie hinaus. Gegenwärtig ist die Aussenwelt freilich ohne Unterlass: als moralischer, sehnsuchtsvoller Appell. Der Platz, der der Heldin mit allem Recht der Welt zustünde, wird ihr nachdrücklich verwehrt.

Guillaume Nicloux und sein Koautor Jérôme Beaujour haben Diderots Briefroman in klassischer Manier als Rückblende adaptiert. Das Martyrium, das Suzanne in verschiedenen Klöstern, unter drei Äbtissinnen und auf je unterschiedliche Weise, erleidet, ist zu Beginn des Films eine Vorgeschichte, die chronologisch aufgerollt wird. Diese Perspektive der geglückten Überwindung muss man nicht als Beschwichtigung verstehen. Die Infamie der übergriffigen Inbesitznahme, deren Objekt Suzanne wird, schmälert das nicht. Etliche Dialoge sind getreu aus der Vorlage übernommen; ihr dramatischer Rhythmus lässt sich offenbar mühelos im Kino heimisch machen. Lässliche Freiheiten haben sich Nicloux und Beaujour gleichwohl genommen. Die grossartige Sequenz, in der Suzanne das Gelübde verweigert, lassen sie später als im Roman auf den Plan treten. Dieser längere Vorlauf beteiligt den Zuschauer stärker an ihrem Dilemma. Unvermutet schürt der Film hier Hoffnung. Die Unausweichlichkeit scheint für einen Moment ausser Kraft gesetzt. Und dennoch sieht man dem Nachfolgenden bang und mit aufgeklärter Paranoia entgegen.

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Nicloux wurde 1966 geboren, in jenem Jahr, in dem Jacques Rivettes erste Verfilmung den Vorwurf der Blasphemie auf sich zog und zum Gegenstand einer Zensuraffäre wurde. Seither hat die katholische Kirche an Einfluss verloren und konnte die Frauenbewegung Fortschritte verbuchen. Für seinen Film bedeuten diese Verwerfungen allenfalls eine unsichtbare Grundierung; er will nicht um jeden Preis zeitgenössisch sein. Ein antiklerikales Pamphlet hat er ebenso wenig wie sein Vorgänger gedreht. Nicloux’ Filmografie changiert eklektisch zwischen den Genres, oft kreisen seine Filme jedoch um die Idee der Prüfung, die ihren Protagonisten auferlegt wird. La religieuse gibt sich den Anschein eines gediegenen Kostümfilms. Diesem Erzählgestus ist allerdings ein doppelter Boden eingezogen. Einerseits stellt Yves Capes Kamera eine Resonanz her zwischen Suzannes Kreuzweg und der katholischen Ikonografie: Konsequent wird sie in Beziehung gesetzt zu Christusdarstellungen, deren Erhabenheit und Sinnlichkeit variieren. Indes folgt Nicloux einer laizistischen Lesart, in dem er sich auf Suzannes Kampf um die ersehnte Freiheit konzentriert. Die Dekors sind für ihn in letzter Konsequenz Gefängnisse, die als Klöster drapiert sind. Noch eine weitere Deutung lässt der Film zu. Das Verhalten der drei Äbtissinnen repräsentiert auch unterschiedliche Spielarten weiblicher Sexualität: die mütterliche, die sadistische sowie die lesbische Liebe. Suzannes Wohltäter sind im Gegenzug ausnahmslos Männer.

Mithin filmt er seine heroische Novizin nicht wie eine Heilige. Er gibt seiner erstaunlichen Hauptdarstellerin Pauline Etiennne den Raum, in sich den inneren Aufruhr Suzannes zu entdecken und nicht erlöschen zu lassen. Die Kraft, die sie unantastbar macht, ist ihre Wahrhaftigkeit. Sie kann weder Gott noch sich selbst belügen. Anfechtungen und Qualen entspringen nicht einem moralischen Konflikt, der sie zerreissen würde. Sie bleibt unbeirrt. Leider sind nicht alle ihrer Gegenspielerinnen ebenbürtig besetzt. Françoise Lebrun ist sehr bewegend als alternde Oberin Madame de Moni, die daran verzweifelt, dass sie ihre Schutzbefohlene nicht zur Berufung als Nonne führen kann. Die ehemalige Wetterfee Louise Bourgoin, die sich mittlerweile zur versierten Charakterkomikerin gemausert hat, verblüfft als böswillige Oberin Christine. Aber ausgerechnet Isabelle Huppert hat sich in ihrer Interpretation der dritten Äbtissin gehörig verschätzt. Sie ist eine der ganz wenigen Figuren in ihrer Karriere, die diese Schauspielerin nicht verteidigen mag. Das ist keine Frage der Rechtfertigung, sondern der emphatischen Parteinahme. Sehnsucht und Empfindsamkeit lässt sie umschlagen in Hysterie, die wilden Blicke und jähen Gesten, von denen Diderot spricht, geraten ihr zur Karikatur. Bei Jacques Rivette und Liselotte Pulver ging es heiterer zu.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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