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A Touch of Sin

China als ein Volk in Bewegung: So zeichnet Jia Zhang-ke in seinem neuen Spielfilm sein Heimatland. A Touch of Sin spielt in der Welt der Wanderarbeiter, dem gewaltigen Strom von armen Leuten aus der Provinz in die Metropolen und reichen Regionen, auf der Suche nach (oft illegaler) Arbeit.

Text: Natalie Böhler / 22. Jan. 2014

China als ein Volk in Bewegung: So zeichnet Jia Zhang-ke in seinem neuen Spielfilm sein Heimatland. A Touch of Sin spielt in der Welt der Wanderarbeiter, dem gewaltigen Strom von armen Leuten aus der Provinz in die Metropolen und reichen Regionen, auf der Suche nach (oft illegaler) Arbeit. Ein guter Teil des Films spielt dementsprechend auf Strassen und Schienen, in Transportmitteln jeglicher Art. Es ist einer der grössten Binnenmigrationsströme aller Zeiten: Über zweihundert Millionen Menschen, so wird geschätzt, sind heutzutage aus Geldnot unterwegs; sie haben mit schwierigsten Arbeitsbedingungen, Entwurzelung, kulturellen Differenzen und gesellschaftlichen Umwälzungen zu kämpfen. Dass China in kürzester Zeit von der Isolation mitten in den globalisierten Wirtschaftsboom geraten ist, hat eine stark destabilisierende Wirkung auf die Gesellschaft.

A Touch of Sin erzählt vier Episoden, die sich um die Missstände im China von heute drehen und ein Klima der Orientierungslosigkeit beschreiben: Korruption, Machtgier und Verrohung sind überall. Ein Minenarbeiter, der sich mit der Ausbeutung der Arbeiter nicht abfinden mag; ein entfremdeter Kleinkrimineller, der wegen einer Handtasche tötet; eine Frau, die sich gegen Übergriffe wehren will; ein junger Mann, dem die menschliche Kälte eisig ins Gesicht bläst. Gewalt, wohin man sieht: Die vier Geschichten spielen in verschiedenen Regionen und ziehen sich vom Nordosten Chinas über das Zentrum in den Süden. Die vier Hauptfiguren sind alle Opfer eines ungerechten Systems, das sie wiederum zu Tätern macht. Der exzessive Ausbruch von Gewalt ist dabei symptomatisch für ihre verzweifelte Hilflosigkeit; sie ist die Gegenkraft zur strukturellen Gewalt, die herrscht. Dass das Drehbuch auf wahren Begebenheiten beruht, lässt die Geschichten noch krasser wirken.

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Jias Film hat, bei allem Blutvergiessen, einen deutlichen moralischen Anspruch; er ist ein Sittengemälde, das trostloser kaum aussehen könnte, wäre da nicht der Humor, der ab und zu aufblitzt – doch selbst der ist rabenschwarz. Schuttplätze, verschandelte Natur, Betonwüsten und graue Einheitshochhäuser liefern ein tristes Setting und zeigen China als ein unwirtliches Biotop, das von innen heraus krankt. Den verzweifelnden Menschen setzt Jia die Tierwelt entgegen, der wir immer wieder begegnen und die die Situation der Figuren spiegelt oder kontrastiert, wie ein stummer Hinweis auf eine natürliche Intaktheit, die verloren gegangen ist.

Nun ist diese Gesellschaftskritik bereits prototypisch geworden fürs neue chinesische Kino der letzten zwanzig Jahre, und auch die Thematik der Wanderarbeiter ist aus andern Filmen bekannt. Obwohl A Touch of Sin vergleichsweise direkt kritisiert und dies mit sehr viel sichtbarer Gewalt auf schockierende Weise tut, bleibt die eigentliche Quelle der Missstände unklar benannt. Zwar fehlt es nicht an Bösewichten – korrupten Beamten, geldgierigen Unternehmern, hartherzigen Arbeitsaufsehern –, doch weist die Schuldfrage darüber hinaus auf ein abstraktes, schwer greifbares System. Da dieses während des Films nie analytisch betrachtet wird, bleibt man als Zuschauer mit den Figuren zusammen in der Misere gefangen, ohne die Chance zum vertiefteren Verständnis der Situation, geschweige denn zum Ausbruch zu kriegen.

Der Regisseur knüpft nicht nur thematisch, sondern auch ästhetisch an seine Vorgängerfilme Still Life (Sanxia haoren, 2006) und The World (Shijie, 2004) an: langsame Schwenks über Niemandslandschaften und monochrome, fein nuancierte Farbskalen. Eine interessante Spannung entsteht aus den Referenzen an Martial-Arts-Filme, allen voran A Touch of Zen (King Hu, 1971), auf den der Titel anspielt. Das genretypische Motiv des einsamen Rächers, der – eben auch mit Gewalt – für Gerechtigkeit kämpft, wird auf A Touch of Sin übertragen, wo es auf eigenwillige Weise mit dem dokumentarischen Realismus kontrastiert, den Jia pflegt und der für die sechste Generation des chinesischen Filmschaffens typisch ist. Daneben verweist der Film auf das Werk von Ai Weiwei, auf Robert De Niros Amoklauf in Taxi Driver und auf Legenden aus der chinesischen Volksoper, die von Rache, Sühne und Verbrechen erzählen. Diese Vielstimmigkeit löst den Film aus einem rein lokalen Kontext und reiht ihn ins globale Filmgeschehen ein: Die erwünschte Öffnung Chinas gegen aussen schlägt sich, filmgeschichtlich gesehen, durchaus nieder.

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Statt der Melancholie seiner früheren Filme lässt Jia hier eine deutliche Wut spüren. A Touch of Sin dreht sich um spezifisch chinesische Probleme und provoziert, indem er auch an Tabuthemen wie Prostitution und staatliches Verschulden, etwa beim Erwähnen eines massiven Zugunglücks, rührt. Dahinter steht offenbar ein klassisches politisches Engagement, ein Bestreben, durch Film gesellschaftliche Änderungen hervorzurufen. Der Originaltitel Tian zhu ding, «vom Himmel bestimmt», spielt an ein landläufiges Sprichwort an, das menschliches Schicksal als vorbestimmt erklärt, wodurch ein spannungsvoller Widerspruch entsteht, der die Frage nach dem menschlichen Handlungsfreiraum und dem Umgang mit Gewalt stellt und die Thematik des Films auf eine universelle Ebene hebt. Ob der Film in China verboten wird, ist bis anhin noch unklar; eine Freigabe würde eine deutliche Öffnung im staatlichen Umgang mit Medienfreiheit bedeuten.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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