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Traumland 01

Traumland

Traumland ist eine Milieustudie, ein Drama, in dem viele kleine Episoden sich zum herben Weihnachtsblues türmen und an dessen Ende eine junge Frau in bitterkalter Morgendämmerung mutterseelenallein auf einer Bank über der Stadt sitzt. Traumland ist nicht lieblich, nicht unterhaltsam, nicht vergnüglich – aber verdammt eindrücklich.

Text: Irene Genhart / 22. Jan. 2014

Sphärisch, verloren, kühl klingt die Musik, die Sascha Ring für den ersten Kinospielfilm von Petra Volpe eingespielt hat. Im Bild, zum Auftakt, rot angeleuchtet das Porträt einer jungen Frau: dunkles, langes Haar, volle Lippen. Sie ist verführerisch schön. Später wird man ihren Namen erfahren: Mia, eine Kurzform von Maria, ein sinniger Name für die Protagonistin eines Films, der an Weihnachten spielt. Doch als «Weihnachtsfilm» sollte man Volpes Film nicht bezeichnen, obwohl in diesem “Genre” das Unschön-Makabre durchaus auch seinen Platz hat.

Es folgen eine Reihe Einzelaufnahmen tröstlich geschmückter Fenster: Kerzen, Sterne, Bambis, Weihnachtsmänner. Zürich hinter dem Bahnhof: Langstrasse, Sihlquai, Lochergut; Strassen, Plätze, Mietshäuser, Blöcke. Zum Schluss der Introduktion fliegt aus einem Hochhaus ein brennender Christbaum. Sein Fall ist tief, und um Falltiefen geht es auch in diesem Film, der mit feinem Gespür für seine Protagonisten unerschrocken offenherzig davon berichtet, was Weihnachten ist: eine – kulturell bedingte – Phase gesteigerter Empfindsamkeit; eine Zeit von wenigen Stunden, in der sich die Menschen ihrer im Alltag (pragmatisch) verdrängten oder uneingestandenen Gefühle und Sehnsüchte plötzlich bewusster sind und die Erwartungen an die Erfüllung unausgesprochener Wünsche sich ins Groteske steigern. Im besten Fall geschieht in diesem Moment ein Wunder. Doch um Wunder geht es in Traumland nicht.

«Oase» heisst die soziale Einrichtung, in der Volpes Film seine Handlung aufnimmt. Die «Oase» ist ein nachtsüber geöffneter Ort, an dem Strassenprostituierte sich bei einem Tee wärmen, einen Schwatz halten, Rat holen, sich mit Präservativen eindecken können. Petra Volpe hat für ihren Film etliche Jahre lang vor Ort intensiv recherchiert. Dass er nun zu einem Zeitpunkt ins Kino kommt, in dem die Stadt Zürich dem Strassenstrich den Riegel schiebt, ist tiefe Ironie.

Volpes Protagonistin nun also ist eine dieser Frauen, die mit roten Lippen, Highheels, Push-up, Minijupe nachts am Strassenrand ihre Dienste anbieten. Mia kommt aus Bulgarien. Sie ist achtzehn und wird einfühlsam-intensiv und ein bisschen schlampig von Luna Mijovic gespielt.

Mijovic war dreizehn, als sie 2006 in Jasmila Zbanic’ Grbavica das erste Mal vor der Kamera stand. Sie kommt aus Sarajevo und hat in den letzten Jahren nicht schlecht Karriere gemacht. Sie war 2010 in Zbanic’ Na putu und Karl Markovics’ atmen, 2012 in Sergio Castellitos Venuto al mondo und Fow Pyng Hus Nick anzutreffen: alles Filme, die augenfällig nicht leichtfüssige Komödien sind, sondern durchs Band tragische, oft von (Kriegs-)Traumas berichtende Dramen.

Traumland 02

In Traumland spielt Luna Mijovic ihre erste grosse Hauptrolle: ein «gefallenes Mädchen», sofern solche Kategorisierung angesichts des Themas überhaupt angemessen ist. Mia hat nämlich in ihrer Heimat eine kleine Tochter und eine Mutter, die diese betreut. Sie ist in den Westen gekommen, um schnell Geld zu machen, haust mit ihrem Freund in einer heruntergekommenen Wohnung; manchmal schaut da auch einer vorbei, der wohl ihr Zuhälter und ziemlich aggressiv ist. Früher, sagt Mias Nachbarin, die Spanierin Maria, sei es hier anders gewesen. Doch Marias Mann ist tot, ihre Tochter lebt in Hongkong, ihre mickrige Rente verbietet ihr den Umzug in eine anständigere Gegend.

Volpe erzählt in Sprenkeln und entwickelt die Logik der Story aus dem zufälligen Zusammentreffen von Ort, Zeit und Figuren. Sie verflicht Mias Geschichte lose mit denjenigen der Menschen, die ihre Wege kreuzen: die ihrer Nachbarin Maria, die der «Oase»-Mitarbeiterin Judith, die ihres Freiers Rolf und die von Martin, der ein Haus und einen Sohn hat und dessen Frau Lena schwanger ist, in dessen Auto dennoch die Hülle eines gebrauchten Präservativs rumliegt. Volpe lässt Mia von baldiger Rückkehr träumen und Judith von der Versöhnung mit ihrem Mann, den sie betrügt. Sie lässt Mia auf dem Weihnachtsmarkt im Hauptbahnhof just dann ein Plüschtier für ihre Tochter erstehen, als Martin mit Lena ebenda die Schwiegereltern abholt. Später wird Lena ihre Familie vor dem Christbaum sitzenlassen, Mia zu sich ins Auto bitten und fragen, wohin sie mit ihren Kunden fährt, was sie mit diesen tut, worüber sie mit ihnen spricht. Mia wird ihr Auskunft geben, ihre Freimütigkeit aber büssen.

Traumland ist eine Milieustudie, ein Drama, in dem viele kleine Episoden sich zum herben Weihnachtsblues türmen und an dessen Ende eine junge Frau in bitterkalter Morgendämmerung mutterseelenallein auf einer Bank über der Stadt sitzt. Traumland ist nicht lieblich, nicht unterhaltsam, nicht vergnüglich – aber verdammt eindrücklich.

Volpes Film ist anzusiedeln im Umfeld eines europäischen Autorenkinos, das der unbeschönigten Realität verpflichtet ist und zu dem die Filme der Gebrüder Dardenne, Joachim Lafosses A perdre la raison oder aber auch das Werk von Ken Loach gehören. Einzugliedern ist Traumland aber auch in eine Reihe jüngerer Schweizer Filme, die – wie Christoph Schaubs Happy New Year und Mary & Johnny von Julian M. Grünthal und Samuel Schwarz – anlässlich eines besonderen Tages oder Festes in der Stadt Zürich während vierundzwanzig Stunden die Schicksale einer Handvoll Personen miteinander verknüpfen und so von den Sehnsüchten, Wünschen und Hoffnungen des «kleinen Mannes» berichten – der bisweilen achtzehn und weiblich ist und davon träumt, mit seinem Kind in den Armen in der fernen Heimat Weihnachten zu feiern.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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